Das Kind der DDR

Meine Freundin ist bis sie 14 Jahre alt war in der ehemaligen DDR aufgewachsen. 1990 kam sie mit ihrer Familie in den Westen. Erstmal nach Berlin. So entsteht ein weiterer Zeitzeugenbericht. Ich spreche sie auf ihre Kindheit an. Gehört hatte ich, dass im Kindergarten gefragt wurde, wie das Sandmännchen aussieht. Auch sah die Uhr im DDR-Fernsehen anders aus als im Westen. „Also das wurde ich nicht gefragt“, erklärt sie „Bei meinen Eltern durfte ich überhaupt kein Westfernsehen gucken, bei meinen Großeltern schon. Denen hatte dies gar nichts ausgemacht. Dort durfte ich sogar das Sandmännchen schauen, nur Zuhause mussten meine Geschwister und ich heimlich die Westsender einstellen. Viele Mitschüler erzählten offen von Sendungen wie Pippi Langstrumpf und Michel aus Lönneberga oder so. Das wollten wir natürlich auch sehen. Bei meinen Eltern ging da leider nichts und daher haben wir uns die Sender über Rädchen am Fernseher eingedreht. In der DDR gab es auch nur zwei Programme. Einmal haben wir Kinder im Westfernsehen Aktenzeichen XY geschaut, als unsere Mutter und Vater auf einem Elternabend waren. Da haben wir uns furchtbar gegruselt und eigentlich nur noch gewartet, dass unsere Eltern heimgekommen sind. Was wir geguckt hatten, durften wir ihnen natürlich nicht sagen. Wir mussten beim Schauen der Westprogramme total aufpassen. Meine Eltern sagten uns immer, sie könnten dadurch ihre Arbeit verlieren. Sie wussten wir werden bestimmt durch unser Umfeld ausgefragt. Es gab eben auch total viele Spitzel. Wir durften deshalb auch niemals Lieder aus dem Westradio singen, was wir natürlich auch heimlich gehört haben. Jeder hat das im Verborgenen gemacht, nur meine Eltern die waren ziemlich gesetzeskonform. Das wollten sie dann selbstverständlich auch von uns. Wenn sie es heimlich doch taten, haben wir es nicht mitbekommen. Es gab wahnsinnig viele, die aufgepasst und Menschen verpfiffen haben. In der DDR konnte ja als Partei nur die SED gewählt werden. Das musste jeder auch, egal ob man letzten Endes überhaupt Mitglied war.“

Hat sie das als Jugendliche überhaupt mitbekommen, dass die Partei immer recht hat? Wurde das bereits in der Schule den Kindern eingetrichtert? Was hatte sie dort gelernt? Ich spüre wie sie am Telefon kurz nickt. „Was ich in der Schule mitbekommen habe war, dass wir für Frieden und gegen Krieg sind. Und es jederzeit passieren könnte, dass der Westen uns angreift. Davor sollten wir uns fürchten. Vor dem Krieg hatte ich fürchterliche Angst. Es gab ja nur diese eine Wahrheit, die uns beigebracht wurde. Im Unterricht haben wir die Mittelstreckenraketen Pershing I und II durchgenommen. Ich habe niemals an dem gezweifelt, was ich in den Nachrichten gehört habe. Meine Mutter sagte, wir sollten morgens immer frühstücken. Wir würden ja nie wissen was an diesem Tag passiert. Es könnte ja zu einem schlimmen Krieg kommen. Den Wahlspruch der Partei kannte ich aber da noch nicht, ich hab mich kaum für Politik interessiert.“ Ich lehne mich zurück. Eigentlich ist es für mich total unvorstellbar eine Ideologie nicht zu hinterfragen. Aber wenn man es nicht anders kennt und von klein auf eingetrichtert bekommt? Wenn die ganze Erziehung auf diese Ideologie ausgerichtet ist? „Heute habe ich ja schon meine eigenen Einstellungen und Meinungen“, informiert mich meine Freundin, „durchaus auch über Politik. Im Allgemeinen bin ich allerdings immer noch gesetzeskonform und konservativ eingestellt. Anständig und ehrgeizig zu sein war bei der Erziehung die Prämisse. Erst heute traue ich mich aus der Routine auch mal auszubrechen und was Verrücktes zu machen.“ Ich glaube, sie lächelt am Telefon.

„Wie war denn die Erziehung, in der DDR gestaltet?“ greife ich ihre Aussage auf. „Also in der Krippe war ich nie“ meint sie. „Dort waren die Kinder ab 0 Jahren. Ab 3 gingen die Kinder, wenn sie trocken waren, in den Kindergarten. Ich auch. Das war überaus strikt durchorganisiert. Wir mussten da zu bestimmten Zeiten immer mit allen anderen Kindern auf die Toilette. Alle standen in einer Reihe, manche auch schon die Hosen heruntergezogen. Dann schnell abputzen und der nächste kam dran. Natürlich konnten die Kinder auch zu anderen Zeiten gehen. Diesen Gruppenzwang gab es nur überall.“ Als Kind fand sie das überhaupt nicht schlimm. „Für mich war das total normal, da hab ich gar nicht drüber nachgedacht“ lacht sie. „Wir haben auch immer ganz frisch gekochtes Essen bekommen, das fand ich schon gut. Currywurst oder Hamburger gab es da nicht. Sonst fällt mir aber nichts ein, was man aus der DDR übernehmen könnte. Was ich richtig schlimm fand, war der Zwang immer mitzuessen. Das musste sein, obwohl ich ein schlechter Esser war als Kind. Auch, wenn es nicht geschmeckt hat. Manchmal habe ich gesagt, mir wird schlecht vom Mittagessen. Es gab da so einen Linseneintopf mit kleinen Fettstückchen drin. Esse musste ich diesen trotzdem, da hab ich mich jedes Mal übergeben. Das war für mich als Kind grausam. Wieder war der Alltag ein Gruppenzwang. Meiner Tochter habe ich deshalb immer gesagt, sie kann jederzeit aufhören zu essen, egal wie viel sie auf dem Teller hat. Wenn Kinder beim Schwimmunterricht Angst hatten, weil das Wasser so tief war, wurden diese einfach reingeworfen. Einen Reifen konnten sie dann fassen und sich wieder herausziehen lassen. Oft habe ich auch im Schwimmbad vor Angst gebrochen. Ich musste trotzdem ins Wasser.“

Ich schüttele entsetzt den Kopf. Das kann sie ja nicht sehen. Und wie ging es nach dem Kindergarten weiter? „Ich bin dann zu den Jungpionieren. Das begann mit dem Jungpioniergelöbnis in der 1. Klasse. Da war ich allerdings nicht dabei. Ich hatte Angina. Meine Freundin hat mir dann meinen Ausweis und das Halstuch mitgebracht. Die veranstalteten Bastelnachmittage haben mir gut gefallen. So kreative Sachen habe ich schon immer gern gemacht. Oder wir haben Eicheln und Kastanien gesammelt für die Klassenkasse. Damit wurden nämlich Tiere in unserem Zoo gefüttert. Wir hatten einen kleinen im Ort. Altstoffe wie Glas oder Zeitungen haben wir abgeholt und bei der Annahmestelle dafür Geld bekommen. Davon konnten wir dann irgendwelche Sachen unternehmen. Blöd fand ich den Fahnenappell jeden Mittwoch auf dem Pausenhof. Halstuch mussten alle immer tragen und zu besonderen Anlässen die komplette Pionierkleidung. Da wurden dann die Pionierfahne gehisst, ebenso wie die der FDJ (Freie Deutsche Jugend), der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft, der Arbeiter und auch die DDR-Flagge. Jedes Mal war eine andere Klasse dran mit einem Vortrag. Die Schüler mussten sozialistische Gedichte und Lieder vortragen. Alle mussten die ganze Zeit im Block dastehen. Gefühlt mindestens eine Stunde.“ Sie stimmt kurz eines der Lieder an, an das sie sich noch erinnert. „Dann kam die Begrüßung. Jungpioniere seid bereit! Immer bereit! haben wir erwidert. Dazu mussten wir den Arm zum Pioniergruß heben. Tadel und Verweise, aber auch Lobe wurden ausgesprochen. Größtenteils hat mir das Pionierleben einfach Spaß gemacht und ich habe es nicht mit Politik verbunden. In den oberen Klassen war ich auch Agitator, so hat man das genannt. Ich musste die Nachrichten verfolgen und die Klasse wöchentlich über diese informieren. Wer gut in der Schule war, musste eben Pflichten übernehmen.“

Ich spüre förmlich wie sie nachdenklich am Telefon den Zeigefinger ans Kinn führt. „Ab der 5. Klasse hatten wir Russisch-Unterricht als Pflichtfach.“ erinnert sie sich, „bei einem Pioniernachmittag haben wir sowjetischen Soldaten in einem abgeriegelten Truppengebiet im Rahmen der deutsch-sowjetischen Freundschaft besucht. Es war im Grunde so wie ein Tag der offenen Tür. Die Soldaten gewährten uns einen Einblick in ihr Leben und ihre Arbeit während der Besatzungszeit. Manche lebten dort allein, andere als Paar oder mit Familie. Es gab für sie eigene Einkaufsmöglichkeiten, die sie vorrangig nutzten. Sie durften aber auch in deutsche Läden. Zudem hatten sie eine eigene Schule „Schkola“ und medizinische Versorgung. Als besonderes Highlight führten uns die Russen in eine Halle mit Panzern. Wir durften in diese sogar hineinklettern und ausprobieren, wie es sich darin sitzt. Wir konnten testen, wie es sich mit dem Periskop von drinnen nach draußen buchstäblich um die Ecke schauen lässt und der Blick aus der Luke ist. Zum Abschluss bekamen wir Kontaktadressen von Schülern und Schülerinnen aus dem Verwandten- und Bekanntenkreis der Soldaten mit, falls jemand von uns mit ihnen schreiben möchte. Die Adressen waren aus der gesamten Sowjetunion. Ich hatte große Lust dazu. Ebenso liebte ich Märchen aus der ganzen Welt. Reisen wollte ich später gerne mal in die Sowjetunion. Nach Moskau mit seinen Zwiebeltürmen oder Minsk, Riga, Archangelsk oder Sotschi am Schwarzen Meer, um etwas von diesem Land zu sehen. Fortan schrieb ich mich anfangs mit drei Brieffreundinnen, bald darauf nur noch mit einem Mädchen aus Minsk und das über längere Zeit. Mit etwas Hilfe unserer Russisch-Lehrerin schrieb ich auf Russisch, sie antwortete auf Deutsch.

Am 1. Mai, dem Kampf- und Feiertag der Arbeiterklasse, haben wir immer mit der Schule Friedenstauben gebastelt. Mit diesen und Birkenzweigen in der Hand liefen alle Schüler in einer Formation. Die Fahnenträger stapften vorneweg. Aus den Lautsprechern drang neben Festreden auch viel Musik. Dann wurden Pionierlieder gesungen, die fand ich immer schön. Sie waren optimistisch und positiv. Allerdings haben wir im Musikunterricht nur solche und Arbeiterlieder gelernt, das war dann schon etwas eintönig.“ Die Partei hat immer recht und inszeniert sich. Kirche hatte gegenüber der SED eine untergeordnete Bedeutung, diese war viel wichtiger. Ich nutze unsere Gesprächspause ein weiteres Thema anzuschneiden. „Wenn ich an DDR denke, kommt mir auch Planwirtschaft in den Sinn. Was hast Du da mitbekommen?“ Mängel hat meine Freundin durchaus mitbekommen. „Als ich geboren wurde, hatten wir eine 1,5-Zimmer-Wohnung. Als meine Schwester unterwegs war, brauchten wir dann etwas Größeres. Tatsächlich sind wir durch eine Erbschaft an ein Haus gekommen. Fehlende Materialien für den Hausbau erhielt mein Vater durch Tauschgeschäfte oder man musste eben improvisieren. Es war nicht immer alles verfügbar. Bei den Lebensmitteln hatten wir immer die Grundnahrungsmittel, soweit ich weiß. Verhungert ist man also nicht. Was es selten gab, waren exotische Produkte, z. B. Obst wie Bananen, Orangen oder Melonen. Kiwis kannte ich bis zur Wende überhaupt nicht. Natürlich gab es da immer lange Schlangen, wenn so etwas Außergewöhnliches mal verfügbar war.“ Und was bedeuteten für sie Westprodukte? Das war doch sicher was überaus Besonderes? „Auf jeden Fall.“ erklärt sie mir. „Davon habe ich immer geträumt. Im Westen roch alles besser, es schmeckte alles besser. Z. B. der Badeschaum, da roch man so gut. Alles sieht schöner aus. So war meine Vorstellung. Alles ist moderner und toller. Wir hatten keine Westverwandtschaft und bekamen keine Pakete. Aber einmal im Jahr durften die Rentner nach Westberlin fahren und dort einkaufen. Mein Opa hat uns dann immer etwas mitgebracht. Nutella z. B. war etwas ganz Göttliches. Oder Schokolade und Prinzenrolle. Weil das so lecker war, haben wir uns kaum getraut etwas davon zu nehmen. Die BRD war für mich ein Traumland.“

Und wie war es für sie, dass sie dort nicht so einfach hin konnte? „Das war total schade, auch dass wir keine Westverwandtschaft haben.“ führt sie aus. „Eine Freundin hat mir auch erzählt, ihre Oma wäre nach Kuba geflogen. Allein der Gedanke daran war total toll. Ich konnte mir ja nur ein exotisches Land vorstellen. Wenn man besonders gut war in der Schule, durfte man manchmal mit anderen Pionieren vereisen. Ein Mädchen aus meiner Parallelklasse ist z. B. mal nach Syrien. Ich wusste natürlich, dass man aus der DDR nicht ausbrechen darf, weil man dann erschossen wird. Flüchten ging nicht. Über die Mauer in Berlin darf man nicht drüber. Ich wäre natürlich gern, aber es war ja nicht möglich. Deshalb hab ich mich total gefreut, als die Grenze geöffnet wurde.“ Fluchtgeschichten hat sie kaum mitbekommen. In den Nachrichten kam dies nicht, die Menschen verschwanden einfach. „Wir hatten so jemanden nicht im Bekannten- oder Verwandtenkreis. Sonst hätte ich da vielleicht etwas bemerkt. Bei uns hatte auch niemand Probleme mit der Stasi. Die Bespitzelungen durch diese wurden mir auch erst nach der Grenzöffnung so richtig klar. Die Mauer gab es eben einfach. Ich bin so aufgewachsen und das war immer eine gegebene Sache. Einmal hatten wir eine Schriftprobe in der Schule. Auch unsere Hände wurden auf Farbreste kontrolliert. An ein Trafohäuschen waren Naziparolen geschmiert worden. Stell dir vor, das wurde in der ganzen Stadt gemacht! Alles wurde auf den Kopf gestellt bis der Übeltäter enttarnt war. Das würde es heute sicher nicht mehr geben.“ Sie pausiert kurz. „Ich wollte nie wieder zurück in die DDR. Freiheit ist nicht automatisch da, dessen sollte sich jeder bewusst sein. Frei zu sein ist ein besonderes Gut.“


2 Gedanken zu “Das Kind der DDR

  1. Was ein Zeitzeugen-Dokument! Wir hatten Verwandte in der DDR und dadurch manche Einblicke, aber als Kind ist vieles an uns vorrüber gegangen. Zum Glück. Die Angst, die wir bei Grenzübertritt immer ausstanden, reichte. Sie steckt bis heute fest in mir.

    Liebe Grüße
    Liane

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    1. Liebe Liane,
      Danke für Deinen Kommentar. Ich bin wirklich froh, dass ich in Süddeutschland aufgewachsen bin. Das mit Deiner Angst kann ich gut nachvollziehen, das lässt sich schwer überwinden.
      Liebe Grüße
      Lisa

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