Zeitreisen: Das Nachkriegskind

Meine Mama ist 1950 geboren. Heute habe ich beschlossen, sie zu interviewen. Meine große Leidenschaft gilt dem Fach Zeitgeschichte und daher studiere ich nun im 3. Semester Kulturwissenschaften an einer Fernuni neben dem Beruf. Schließlich ist dieser Bereich der Vergangenheit durch Oral History ein Feld, dass uns allen durch Zeitzeugen (und deshalb befrage ich auch meine eigene Familie) noch zur Verfügung steht. Dieses Wissen für kommende Generationen zu bewahren ist von höchster Priorität und unser Vermächtnis. „Also gell, ich war da noch ein ganz junges Mädchen. Das weißt Du wohl.“ erklärt mir meine Mutter. Das verstehe ich absolut. Trotzdem will ich wissen, was sie als Kind erlebt hat. Ich will wissen, wie sie damals aufgewachsen ist. Politischen Hintergrund habe ich nicht. Was hat sie empfunden? DAMALS? „Du bist kurz nach den Nürnberger Prozessen geboren. Was hast Du mitbekommen?“ formuliere ich mein Anliegen. „Erinnerst Du Dich?“ Wahrscheinlich war sie noch zu klein. „Mitbekommen habe ich immer was“, erklärt meine Ma,“ sonntags nach der Kirche haben meine Eltern immer in den Weltspiegel geguckt. Am Rathaus konnte man den einlesen. Einen Fernseher hatten wir wie die meisten Familien ja nicht. Die Frauen sind dann heim zum Kochen, aber die Männer blieben da und tranken dann ihr Bier. Da guckten wir Kinder auch mit die Nachrichten.“

„Hast Du das denn verstanden? Dieses ganze Übel von damals?“ frage ich meine Mutter. Krieg ist etwas Grausames. Anscheinend war es wohl für die Kinder lediglich das Tageshoch, als sie mit den Erwachsenen die Nachrichten gesehen haben. Ich spüre, wie sie vor dem Telefon den Kopf schüttelt. „Nein, ich hab das nicht kapiert. Es ist ja auch nicht darüber gesprochen worden. Ich habe oft gefragt, warum ein Einwohner keinen Arm oder auch kein Bein hat. Mitbekommen haben wir, dass Kriegsgefangene heimgekommen sind. Das hat mir dann mein Opa gesagt. Der wurde dann von der Gemeinde begrüßt. Bezug hatte ich dazu nicht. Ich wusste nur, dass dieses Willkommen wichtig ist. Im Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, ist auch mal ein Blindgänger gefunden worden. Der wurde dann entfernt. Sonst war da nichts groß.“ Vom Krieg hat sie nicht viel mitbekommen. Die Not der Bürger anschließend aber dennoch. Das hatte auch im Dorf keinen Unterschied gemacht. „Die Kriegsgefangenen mussten ja irgendwo bleiben“, führt Mama aus, „für die gab es bei uns ein Armenhaus. Die Bauern haben dort Lebensmittel hingebracht. Das wusste ich! Da leben Leute, die nichts haben. Früher konnte man keine Sozialhilfe beantragen. Es gab keine Unterstützung. Meistens gab es nur Hilfe von Landwirten und so. Wenn man geschlachtet hat, gab es etwas für Pfarrer und Lehrer und auch für die Bedürftigen in diesem Haus.

Wann hatte sie das erste Mal Kontakt mit der NS-Zeit, auch wenn diese kurz vor ihrer Geburt bereits vorbei war? Hatte meine Mutter eine solche Erfahrung überhaupt? „Ja, ich erinnere mich.“, sagt sie, „Zuhause habe ich damals ein Holzmäppchen auf dem Speicher gefunden. Da waren wunderschöne Blumen darauf gemalt. Darunter war leider ein Hakenkreuz. Stolz bin ich damals mit dem Mäppchen in die Schule gegangen. Ich wusste gar nicht, was es mit diesem Symbol auf sich hatte. Niemand hat mir etwas darüber gesagt. Leider hatte ich einen Lehrer, der Jude war. Er informierte mich auch nicht warum, aber ich sollte das Zeichen auf jeden Fall entfernen. Keine Erklärung erhielt ich. Er stand einfach am Fenster, die Arme hinter dem Rücken und drehte nervös beide Daumen. „Weg!“, sagte er nur. Seine Frau wollte mir sogar helfen und hat mit ATA über das Holz geschrubbt. Natürlich erfolglos. Ich hab dann vor lauter Zorn mein Tintenfass genommen und hab es über das Kreuz gekippt. Dann war mein Mäppchen natürlich kaputt. Ich habe nie mehr mit diesem Lehrer gesprochen. Als Kind hat es mich einfach niemals interessiert, was er erlebt hat. Ich war einfach nur stolz auf mein besonderes Etui. Seine Frau wollte mir dann noch darlegen, dass er in der NS-Zeit viel Böses erlebt hat.

Als Kind hätte ich dies angenommen, wenn er mir sein Verhalten erklärt hätte. So hatte ich aus lauter Unverständnis etwas besonderes kaputt gemacht. Mein Opa hatte mir danach über das Grauen des 2. Weltkrieges erzählt und ich habe darüber dann viele Bücher gelesen. Aber damals hatte ich meinen Lehrer leider nicht verstanden. Diese Zeit muss furchtbar gewesen sein. Es ist unmenschliches passiert. Die Menschen konnten kaum darüber sprechen. Ich habe von einer Frau erfahren, die vor den Russen flüchtete. Sie ist mit dem Kinderwagen durch den Schnee gerannt und versuchte auf ein rettendes Schiff zu kommen. Es hat leider nicht ganz gereicht. So nahm ein russischer Soldat das Kind aus dem Kinderwagen und beförderte es mit einem Tritt ins Wasser. Das Kind ertrank. Als ich diese Geschichte von einer Rentnerin hörte, war ich erst 30. Ich muss gestehen, ich habe mich nie so genau darum gekümmert. Aber daraufhin habe ich mehr erfahren wollen.“ Eine Gänsehaut überzieht meine Arme. Es wird kalt im Raum. Obwohl mich Zeitgeschichte fasziniert, sitzt die Vorstellung tief. Das kleine Baby, das ertränkt worden ist. Viel Elend hat die Bevölkerung während und nach den Weltkriegen gesehen. Meine Mutter betreute früher alte Menschen im Altersheim und hat dadurch Zugang zu einigen grauenhaften Geschichten.

„Ein alter Mann sagte zu mir, hat man nicht mitgemacht, wurde man selbst deportiert. Ein großes Misstrauen herrschte und eine große Bereitschaft jeden zu verraten.“ erläutert mir die Frau, die mich geboren hat. „Ich weiß, dass mein Opa viele Menschen gerettet hat. Vor den Nazis hat er Juden und Behinderte in einer Grube, die mit Stroh bedeckt war, versteckt.“ Meine Mutter erinnert sich dabei besonders an eine behinderte Frau. Die Großeltern meiner Mutter hatten damals bereits einen Bauernhof und demgemäß zum Glück auch einen Stall. Ich erinnere mich an wunderbare Ferien auf dem Bauernhof bei meiner Oma. Und Opa. Obwohl sein Bart immer gekratzt hat. „Mir kam das als Kind nie komisch vor“, sagt Mama nachdenklich, „Ich habe die ganze Zeit bei meinem Opa gewohnt bis meine Mutter meinen Stiefvater geheiratet hat. Dann zogen wir weg. Da hatte ich natürlich zu seinen Ansichten und dem Widerstand gegen die Nazis nicht mehr so den Bezug. Mein Opa war einfach ein furchtbar lieber Mensch.“ Was für Erinnerungen hat sie an die französische Besatzung? Sie schweigt kurz und überlegt. „Also die Franzosen haben immer ganz tolle, vornehme Festchen gemacht. Das war immer sehr schön. Für uns junge Leute sowieso. Wir hatten ja nicht so viele Möglichkeiten.“

War das Verhältnis zu den Franzosen immer gut? „Also bei uns ist ja Baggage auch eine liebevolle Bezeichnung, für alle, die zur Familie gehören.“ erklärt meine Mutter, „es gibt ja total viele Wörter im Badischen, die aus dem Französischen entlehnt sind. Früher war es auch so, dass viele Fachkräfte von hier im Elsass gearbeitet haben. Ich habe mir damals mit einer Frau das Aufpassen für die Kinder geteilt, ihr Mann war in Straßburg Bäcker.“ Sie schweigt kurz. „Damals war ich Friseuse. Oftmals wurde ich in Naturalien bezahlt. Mit den Franzosen habe ich auf jeden Fall kein Problem.“ Französisch kann sie aber nicht, aber sie versteht zumindest den Elsässer Dialekt. Niemals war der Mentalitätsunterschied Gesprächsthema. „Das war immer ok“, meint sie, „blöd war, dass die eigenen Eltern und einheimischen Erwachsenen nicht gesprochen haben. Meine Mutter hat als junges Mädchen Schützengräben ausheben müssen. Und sie ist sehr behütet aufgewachsen. Ein Alptraum. Da muss es schlimm zugegangen sein. Normal war das nicht. Aber sie hat nie darüber gesprochen. Als ich jünger war, hab ich mich wie gesagt auch nicht dafür interessiert. Verwandte haben mir das letztlich erzählt.“

Als meine Mutter auf die Welt kam, war dies alles vorbei. Frauen, die Steine klopften, um den Wiederaufbau voranzutreiben, hat sie dennoch wahrgenommen. Not und Armut waren doch allgegenwärtig. „Es gab einfach nichts, überall fehlte es.“ erinnert sich meine Ma. Geprägt hat sie dieses ’nichts zu haben‘ immens. „Ich nehme auf jeden Fall immer eine Stofftasche mit. Ich fahre Fahrrad und lasse das Auto stehen. Oft habe ich eine Tupperschüssel dabei. Wahrscheinlich bin ich einfach geizig. Ich muss es ja dann auch bezahlen.“ entrüstet sie sich. Von ihrem Ehemann war sie als junge Frau abhängig. Sie musste ihn fragen, ob sie arbeiten darf oder um ein eigenes Konto zu bekommen. Gibt es etwas, was die jüngere Generation daraus lernen kann? Heute sollten Mann und Frau ja gleichberechtigt sein. Was möchte eine 70-Jährige uns raten? „Bleibt fit“, sagt sie. „Trinkt nicht so viel Cola und esst nicht so viel Fastfood. Und räumt Euren Müll weg! Und kaputte Dinge wie Beziehungen muss man auch mal wieder reparieren. Nicht nur einfach wegwerfen. Kümmert Euch um Euren Dreck! Dann könnt Ihr auch protestierten. Aber es muss ehrlich gemeint sein. “

Sie stockt kurz. „Als junger Mensch heute ist man es gewöhnt alles kaufen zu können. Das hatte ich nicht. Ich musste immer arbeiten, um ein bisschen zu haben. Da denke ich schon, ich habe das voraus. Wenn ich alles haben kann und es kommt eine Situation im Leben, die das nicht gewährleistet, dann ist es für mich keine Umstellung. Für andere schon. Wir Mädchen konnten nie das lernen, was wir wollten. Das war furchtbar. Ich hätte so gern eine Ausbildung zur Schreinerin oder so gemacht. Von Zuhause aus hätte ich wahrscheinlich gar nichts lernen brauchen. Die dachten, ich heirate ja später sowieso. Ich bin dann extra von Zuhause weg und hab einen Beruf gelernt. Friseurin.“ Heutzutage ist das für mich kaum vorstellbar, ich habe zwei kaufmännische Ausbildungen absolviert, die ich mir selbst ausgesucht habe. „Ich habe um vieles kämpfen müssen“, sagt meine Mutter. „Das hat mich geprägt, aber auch für meinen Alltag gestärkt. Ein Training fürs ganze Leben war das!“ Schöne Erinnerungen hat sie hauptsächlich mit ihrem Opa. Sie und andere Nachrkiegsjugendliche waren mit wenig zufrieden. Es wurde gesungen und Gitarre am Lagerfeuer gespielt. Große Veränderungen gab es nicht. Als uneheliches Kind hatte sie es in den 50er Jahren nicht so leicht. Auf keinen Fall privat, aber auch die Kirche hatte die unehelichen Kinder schlechter gestellt. Sie seufzt leise kurz. „Über alles konnte man einfach nicht sprechen, Kinder kriegen ist irgendwie im Geheimen passiert.“

An ihren Opa erinnert sie sich am liebsten. Das war ein ganz gescheiter und weltoffener Mann. „Ich hatte mal zu einem Nachbar Most bringen sollen. Den habe ich aber getrunken, er hat mir eben geschmeckt. Ich habe diesen dann mit Wasser aufgefüllt. Der Nachbar hat sich furchtbar beschwert und mich dann in den Saustall gesperrt. Die große Sau sprang immer nach mir, da hatte ich schreckliche Angst. Ich hab laut gebrüllt und versucht mich vor dem Schwein zu retten. Ich hab mich am Fenstersims festgehalten. Mein Opa hat mich dann zum Glück rausgeholt.“ Sie ist glücklich und froh, alles Schlechte hinter sich zu lassen, dass alles doch heute gut geworden ist. Das ist doch wunderbar, nicht? „Ich fühle mich so wohl und bin der Mensch, der ich eigentlich sein will. Vier liebe Kinder habe ich, die machen, was sie möchten.“ führt sie aus. Und was waren ihre Träume? „Ich konnte als junger Mensch nie richtig verreisen, ich hatte ja kein Geld. Jetzt kann ich aber weg, das genieße ich. Ich lese, was ich will. Ganz oft gehe ich auch ins Theater. Hadern muss ich nicht. Ich bin ein ganz glücklicher Mensch. Ein kleines Auto hab ich auch. Einige schwere Krankheiten habe ich zum Glück gut überstanden.“ schwärmt meine Mama.

„Mir geht es sehr gut. Mein Traum wäre natürlich noch nach Island zu reisen. Da würde ich gerne mal hin. Und die Mayakultur interessiert mich. Aber das ist zu hoch. Da muss ich dann hin, wenn ich gestorben bin und überall rumfliegen kann.“ Ich spüre, dass sie lächelt. „Leben passiert immer erst hinterher. Eigentlich wäre es besser, ich wäre beim Friseur in München geblieben und nicht wieder nach Hause. Aber das weiß man erst im Nachhinein.“ Eine abrupte Denkpause folgt. „Ich hatte auch viele schöne Stunden. Mein erster Mann hatte sogar den Kinderwagen geschoben. Das war zur damaligen Zeit nicht üblich, kein Mann machte das. Andere Herren haben das überhaupt nicht verstanden. Er war eben ein sehr liebevoller Mensch. Allerdings würde ich heute meine eigene Freiheit nicht aufgeben. Auch mit Kind muss das im Vordergrund stehen!“ Hat sie auch Erinnerungen an die DDR? Die hat sie eigentlich völlig verpasst. „Ich habe nur manchmal Bilder in den Nachrichten gesehen, wenn ein Soldat über die Mauer gesprungen ist oder so. Bei uns habe ich das nicht so mitbekommen, nur manchmal haben DDR-Bürger im Schwarzwald Ferien gemacht. Der 17. Juni ist mir natürlich in Erinnerung geblieben. Da war ich voller Wut, ich war richtig sauer. Wie kann man Menschen derart behandeln? Verwandschaft Deines Vaters kam ja von ‚Drüben‘, der haben wir auch immer Päckchen geschickt. Erinnerst Du dich? Das waren mit der DDR meine einzigen Berührungspunkte.“


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