Die letzte Reise – Stadtteil der Verstorbenen

Der Zeigefinger des Katalanen zeigt ganz strikt geradeaus. ‚Immer da lang.‘ verstehe ich mit meinen schlechten Spanischkenntnissen. Dann führt er mit der geschlossenen Hand eine Welle nach Unten. Ich muss also irgendwo drunter durch Laufen. Ich bedanke mich zügig und laufe unentschlossen los. Der Friedhof Montjuic in Barcelona ist nicht an das U- oder S-Bahnnetz angeschlossen. Es fahren lediglich Busse, was die Sache für mich ungleich schwieriger macht. Ich hatte in der Innenstadt keine passende Buslinie oder Haltestelle gefunden und war einfach losgelaufen. Vermutlich hatte ich mich in der Einschätzung der Entfernung etwas verschätzt. Die Fußsohlen schmerzen bereits und vom Eingang zum Friedhof ist noch lange keine Spur. Letztlich dauert es auch noch eine ganze Weile und einen anstrengenden Fußmarsch, bis ich die zierlichen Grabsteine auf dem Friedhofshügel in der Ferne ausmache. Das Areal ist also überaus schwer zu finden.

Zusammen mit der alten Festung im Parc de la Ciutadella, spielte der Hausberg Montjuic eine wichtige Rolle in der Kontrolle und Bewachung der Stadt. Hier waren die Soldaten in den verschiedenen spanischen Kriegen stationiert, auch im spanischen Bürgerkrieg. Viele Exekutionen gab es an diesem Ort, auch die des katalanischen Präsidenten Lluís Companys. Anschließend nutzten die französischen Obrigkeiten die Festung bis 1960 als Gefängnis. Doch nicht immer war die Geschichte und Verwendung des Hausbergs derart tragisch. 1975 wurde die Gegend als Formel 1 Strecke verwendet, 1992 fanden hier im Stadion die olympischen Spiele statt. Auch den wichtigsten Friedhof Montjuic der Stadt Barcelona finde ich hier. Alle Gräber sind entlang des Berghangs angeordnet und geben einen fantastischen Blick auf Barcelona frei.

Die Hanglage des Friedhofs zwingt mich zu einem Gang mit andauerndem Auf und Ab. Die Besichtigung ist daher etwas mühsam. Es ist ganz still. Ein leichter Windhauch zerreißt die Tonlosigkeit. Erfrischend zaust die kühle Böe die Haare von meinem heißen Gesicht. Es scheint, Barcelona käme hier zur Ruhe. Ich auch. Das Areal ist reich an außergewöhnlichen Grabmälern und Gruften. Beim Bau der Grabstätten für die großbürgerlichen Familien Barcelonas haben einige der bekanntesten katalanischen Jugendstilarchitekten mitgewirkt. Stilistisch sind die Grabkapellen nicht einheitlich gestaltet, sondern recht gemischt. Jugendstil, Neoklassik und Neogotik überwiegen.


Im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert, als Barcelona noch von der engen Stadtmauer eingezwängt wurde und man gerade erst damit begann die Friedhöfe außerhalb des Zentrums einzurichten, war für viele Bürger ein Grab noch wesentlich mehr als nur die letzte Ruhestätte. Wenn es um den Nachruhm ging, war die Oberschicht im 19. Jahrhundert nicht knauserig. Sie starben, wie sie lebten, auf großem Fuß. Es wurden Kunstwerke von außergewöhnlicher Schönheit geschaffen. Das soziale Prestige der Verstorbenen musste über den Tod hinweg erhalten und dargestellt werden. Wer weniger gut betucht war, normale Arbeiter zu Beispiel, hatte da keine große Wahl – sie landeten oft in einem anonymen Massengrab. Davon gab es auf jedem Friedhof mindestens eins.

Entstanden sind Werke von großer künstlerischer Vielfalt und großem Luxus. Im Grunde eine kontinuierliche Fußspur der spanischen Geschichte, die ich hier auf fast jedem Meter bestaunen kann. Hoch über dem Meer setzte sich die aufstrebende Bourgeoisie mit Montjuic ein Denkmal in Form von prächtigen Pantheons und kunstvollen Kapellen. In sicherer Entfernung liegen die schmucklosen Nischengräber der einfachen Leute. Prominente Künstler, wie der in Barcelona geborene Maler Joan Miró, wurden hier zur letzten Ruhe gebetet. Häufig unter Engelsskulpturen, die meisten mit weiblichen Wesenszügen. Einige Schwingen der Himmelsboten sind mit Federn gestaltet, andere tragen Libellenflügel. 150.000 Grabstätten gibt es hier. 1883 wurde der Friedhof vom damaligen Bürgermeister Barcelonas eröffnet.

Jetzt kann man sich eine festliche Feier zur Einweihung dieses Ortes vorstellen. Oder lieber doch nicht! Damals brauchte Barcelona einen größeren Friedhof, da in der ersten Hälfte des 19. Jhd. die Bevölkerung aufgrund des Wirtschaftswachstums der Großstadt extrem wuchs. Der Ältere konnte damals nicht mehr erweitert werden. Am 19. März fand die erste Beisetzung statt: José Fonrodona Riva, ein Bürgermeister aus Kuba. Dessen letzte Ruhestätte ist heute noch zu besichtigen. Mein Spaziergang über den schönsten Friedhof Barcelonas ist wie eine Reise in die Geschichte der Stadt und ihrer Bewohner. Künstler, Abenteurer, Wissenschaftler, Arme und Reiche, alle finden hier ihren Platz. Die Toten haben von hier oben einen besseren Ausblick als viele Lebende, sagt der Volksmund. Stilvolle Mausoleen, Bodengräber und beeindruckende Familiengrüfte schlängeln sich an mir vorbei den Berg empor. Die verstorbene Highsociety Barcelonas lässt mich also aus dem Jenseits grüßen.

Heute finden vor allem Urnenbestattungen statt und in einem speziellen Waldstück kann auch die Asche verschüttet werden. Die morbide Parkanlage hat einen einzigartigen, unaufgeregten Charme. Ich spaziere vorbei an den wunderschönen Gräbern aus verschiedenen Kunstepochen. Riesige Familien Mausoleen reihen sich schmuckvoll aneinander. Im Grund zierliche, kleine Schlösser. Mehr als 50 Hektar fast das gesamte Areal. Dennoch! Letzten Endes war auch der Friedhof Montjuic zu klein. Obwohl mehrfach vergrößert, war er seit 1970 überfüllt und wird nur noch benutzt, wenn schon Familiengräber existieren. Ewige Engelslegionen in Stein gehauen, die dem Tod die Stirn bieten. Wegbegleiter aus Marmor, die auf die Toten achtgeben. Die stille Seite der spanischen Geschichte. Ein Spaziergang entlang stiller Familiengruften, über Bodengräber bis zu bombastischen Grabmalen mit kunstvollen Grabplatten.

Die riesigen Statuen, mit denen adlige Familien ihre Herrlichkeit zeigen wollten, die sie zu Lebzeiten besaßen, liegen heute einsam und verlassen da. Allgegenwärtig ist Ruhe zu spüren. Der Wind streicht leicht über die Totenstätten. Prunk ist vergangen, was bleibt ist nackter Stein. Und eine ungeschliffene Ahnung auf vergangenen Reichtum und damit einhergehende Lebenslust. Menschenleer liegt das Gräberfeld vor mir. Die Kapellen stehen ruhig und ungestört. Dieser Platz verströmt eine besondere Aura an einem heiligen Ort. Spürbar ist die Geschichte der Stadt. Eindrucksvoll, bedrückend und imposant. Kunstgeschichtlich atemberaubend. Und dennoch, nichts hält ewig. Lebe ich wohl?


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