Alltag in der DDR…

„Ich weiß nicht, ob es besser wird, wenn es anders wird. Aber es muss anders werden, wenn es besser werden soll!“ so der Wissenschaftler Georg Christoph Lichtenberg. Vielleicht gilt das auch für die deutsche Einheit, die scheinbar selbst am 3. Oktober 2020 noch nicht so richtig zusammen gewachsen ist. Mit diesem bekannten Zitat im Kopf trete ich durch die Tür des DDR-Museums in Pforzheim. 30 Jahre ist die Wiedervereinigung jetzt her. Ich ziehe die Tür zur Ausstellung auf. ‚Was machen Sie denn hier an so einem schönen Tag?‘ der Museumsangestellte sieht mich freundlich an. Er hat lange in der DDR gelebt und ein Staatssicherheitsstudium absolviert. Das ehemalige ‚Drüben‘ war lange Zeit seine Heimat. Letztlich war er dennoch gezwungen aufgrund der wirtschaftlichen Situation nach der Wende einen Job in Westdeutschland anzunehmen. Er nimmt sich fast 2 Stunden, um mich durch die Ausstellung zu führen. Ich blicke in den strahlend blauen Himmel. Es ist einer der letzten schönen Herbsttage. Die Sonne strahlt. Ich trage noch keine Jacke. Das Museum wurde von Klaus Knabe 1998 gegründet. Er sammelte lange Zeit alles aus der DDR, was nach 1990 plötzlich wertlos geworden war. Nachdem sein Dachboden für dieses wilde Sammelsurium zu klein wurde, ergaben sich neue Räumlichkeiten mit Unterstützung der Stadt. Heute ist das Museum im ehemaligen Kindergarten der französischen Streitkräfte zu finden.

Ich schaue mich in der Eingangshalle um. An der Wand blinken die Ampelmännchen in Grün und Rot. In einem letzten Aufbäumen der ehemals ostdeutschen Bevölkerung sollen diese in den Städten der früheren DDR im Straßenverkehr erhalten bleiben, zum Beispiel in Berlin. In einer kleinen Vitrine sitzen daneben die Sandmännchen von der BRD und der ehemaligen DDR. Eines in grüner Kleidung, eines in Rot. Ich stehe vor der erfolgreichsten Integrationsfigur von Ost- und West. Hier beginnt meine Privatführung. Ich bin heute die einzige Besucherin. So habe ich den Museumsmitarbeiter ganz allein für meine Fragen. Er deutet auf die Sandmännchen von Ost und West. ‚Um 18:45 Uhr immigrierten 95 Prozent der Bevölkerung von der DDR in Richtung ARD und ZDF.‘ erklärt er mir. ‚Gleichzeitig machte sich die Hälfte der BRD-Bevölkerung auf, um das DDR-Sandmännchen zu sehen. Anhand der Beschreibung des Sandmännchens oder der Fernsehuhr (mit Punkt oder in der DDR mit Strich in der Mitte) konnte im Kindergarten bereits festgestellt werden, ob eine Ost-Familie Westfernsehen schaute. Was strengstens verboten war!‘

Gleich unter der Vitrine der Sandmännchen fangen anscheinend die politischen Themen an. Ich folge dem ausgestreckten Zeigefinger des Museumsmitarbeiters. Im Schaukasten stehen kleine Gläser mit gelbem Stoff darin. ‚Diese gelblichen Tücher dienten dazu, den Duft von Menschen einzufangen. Solche Proben wurden dann an darauf trainierte Suchhunde gegeben, um flüchtige Übeltäter zu finden.‘ Im Schaufenster daneben liegt ein unförmiger graubrauner Brocken. ‚Dieser Klumpen Papier besteht aus vernichteten Stasiakten. Die Bürgerrechtler, die die Stasizentralen in allen 16 DDR-Bezirken gestürmt haben, konnten zum Glück viele Aktenvernichtungen verhindern. Es gibt aktuell auch ein Computerprogramm, dass die Papierfetzen scannt und wieder zusammensetzt. Heute können die ehemaligen Bewohner der DDR selbst Einsicht in ihre Akten nehmen und herausfinden, wer sie abhörte, warum und wie.‘ Der Ausstellungsführer deutet auf die nächste Wand. ‚Die Grundphilosophie der DDR war definitiv, „Die Partei hat immer recht.“ Jeder der dagegen ist, hat natürlich nicht recht. Dieser ist Gegner der Partei und wurde zu einem Feindbild. Die Partei durchdrang nicht nur jeden Teil des gesellschaftlichen Lebens, sondern beherrschte diesen auch. Sie hatte stets eine vorragende Rolle in sämtlichen Bereichen.‘

Der Museumsführer winkt mich in den nächsten Ausstellungsraum. Der Wahlspruch der Partei prangt in großer Schrift über einer Vitrine voller DDR-Abzeichen. Eines ragt heraus. ‚Schwerter zu Pflugscharen‘, war das Symbol der DDR-Friedensbewegung, auf dem ein Schmied ein Schwert in eine Pflugschar hämmert. Tatsächlich hatte bei einem ostdeutschen Kirchentag jemand vor aller Augen ein Schwert zu einer Pflugschar umgeschmolzen. Solche friedlichen Bewegungen wurden von der Sicherheitspolizei der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) konnte, absolut verfolgt. Die einzige Partei, die man in der DDR wählen konnte. Hatte die Gestapo im 3. Reich 3.000 Mitarbeiter für ganz Deutschland, so hatte das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) in der DDR 1989 etwa 90.000 Mitarbeiter für die überschaubare DDR. Ich berichte aus meinem Bekanntenkreis. Meine Freundin wuchs in der DDR auf und kam mit 14 Jahren ein Jahr nach der Wende nach Westdeutschland. Gestern waren wir wandern und sie hatte mir von einer erfüllten Kindheit bei den Jungpionieren der DDR berichtet. Der Ehrenamtliche Mitarbeiter nickt zustimmend. ‚Sicher. Man hatte ja etliche Jugendgruppen, mit denen man in der Freizeit viel unternehmen konnte. Dies fing bereits bei der Einschulung mit der Zugehörigkeit zu den Jungpionieren an. Bis man schließlich eventuell selbst Führer einer Pionierjugendgruppe wurde. Die Teilnahme an diesen Freizeitverbänden war freiwillig. Wer keine Mitgliedschaft hatte und keines der charakteristischen blauen Halstücher besaß, war trotzdem automatisch Außenseiter im System. Den die Partei hat ja schließlich immer Recht!‘

Das Obergeschoss der Ausstellung widmet sich unter anderem der DDR-Erziehung und dem Alltag der Jugend im ehemaligen Osten. Vor einem Bild voller Kindergartenkinder, die alle zur selben Zeit auf dem Töpfchen sitzen, bleiben wir stehen. ‚Dieses Foto finden die meisten Besucher unseres Museums eigentlich nur süß.‘ meint der Ausstellungsführer nachdenklich. ‚Im Grunde ist die Abbildung eigentlich befremdlich. Sie sehen hier eine sogenannte Töpfchenleiste. Die Partei sagte, alle Kinder müssen in der Krippe morgens um 8 Uhr gemeinsam auf die Toilette. Wenn dies funktioniert, ist es für alle Eltern natürlich super. Dann sind die Kinder nicht mehr auf Windeln angewiesen. Klappt es nicht und die Knirpse können nicht, wird dies von den Betreuern gespeichert. Passiert es dann am nächsten Tag wieder, baut man Druck auf die Kinder auf. Meistens können diese dann gar nicht mehr. Sie haben sich dadurch selbst ausgegrenzt und gehören nicht mehr dazu. Tatsächlich sind die Kinder durch die Parteivorgaben manchmal psychisch so kaputt, dass sie nie wieder dazugehören können. Wer nicht mitmacht, steht automatisch am Rand der Gesellschaft und wird immer wieder ausgeschlossen. Denn die Partei hat ja immer recht. Wer nicht dafür ist, ist automatisch dagegen. Wenn du einmal nicht zum System gepasst hast, ist der Schaden bereits da. Auch, wenn man sich danach eingliedert. Zum Schluss brauchte die Partei diese Menschen als Individuen ohne eigene Meinung, die blind dem Parteiprogramm folgen. Und sich im Falle eines Krieges als Kanonenfutter zur Verfügung stellen.

Als kleiner Jungpionier von beispielsweise 10 Jahren ist das natürlich total aufregend. Bereits in der Schule gestalteten sich die zu bearbeitenden Aufgaben nach dem Parteivorhaben. In Mathematik errechnen die Schüler zum Beispiel, wie viele Soldaten an einem Kanonenschießen beteiligt wären.‘ betont der Museumsmitarbeiter und deutet auf ein aufgeschlagenes Schulbuch im Schaufenster. Bilder aus der DDR-Jugend bevölkern die Wand neben uns. Schlaghosen trug man damals also auch. Die Heranwachsenden in der DDR hatten ebenfalls eine Sturm- und Drangzeit. Diese allerdings immer unter dem mahnenden Auge der Partei. Zum Glück kennt sich der Museumsführer durch die eigenen Jugenderfahrungen prima aus. ‚Ich war nie in einer Diskothek, die nicht das Gesetz des Musikverhältnisses von 60% Musik aus dem Sozialismus zu 40% aus dem Kapitalismus missachtete. Natürlich wurde damals dieses Verhältnis permanent kontrolliert und bei Nichtbeachtung die Lizenz entzogen. Wen es also keinen Hit gab wie ‚Über 7 Brücken‘, der auch im Westen gespielt wurde, hörte man in Clubs viel mehr West- als Ostmusik. Es etablierte sich eine Subkultur mit Hippies und Punks, die die Partei sogar gewähren ließ. Natürlich immer nur bis zu einem gewissen Grad, das Parteiprogramm durfte nicht gefährdet werden.‘

Er zeigt auf einen Grenzposten in der Mitte des nächsten Raumes. ‚Grenzsicherung spielte in diesem Überwachungsstaat eine sehr große Rolle. Dies ging sogar so weit, dass man als Student in Potsdam in der Diskothek, nicht nach dem Namen gefragt hat, wenn man jemanden kennengelernt hat. Man fragte, wo der- oder diejenige wohnt. Die Gebiete nahe der Grenze zur BRD hatte man dabei natürlich im Kopf. Je nachdem, ob nun eine Straße genannt wurde, für die man einen Passierschein brauchte, hatte man entweder die Liebe seines Lebens vor sich stehen oder brauchte sich überhaupt nicht weiter zu bemühen. Selbst ein Musterstudent wäre in diesem Grenzgebiet ergriffen worden und exmatrikuliert worden. An den Grenzzaun und die Wachtürme der deutsch-deutschen Grenze schließt sich ein breiter Minen-, Sand- und Schutzstreifen an mit einer 5Km-Sperrzone davor. Die Soldaten mussten dort immer zweimal auf Flüchtende schießen. Das durfte nicht vergessen werden. Zuerst ein Warnschuss und der Zweite musste treffen, egal wo. Die zwei Schüsse musste man jedes Mal nachweisen. Es wurde denn jungen Soldaten also eingeschärft, nach dem ersten Treffer immer noch ein zweites Mal zu schießen. Dann stellte niemand Fragen. Die Leichen wurden anschließend irgendwo verscharrt.‘

In der Vitrine vor mir liegt ein mit Schleife eingebundenes Präsent. Nicht nur die Westverwandtschaft hatte Pakete in den Osten geschickt. Man konnte zum Beispiel ein Auto für die Familie in der DDR kaufen und den Beleg zusenden. Es kamen aber auch genauso Ostgeschenke nach Westdeutschland, zum Beispiel Fotoapparate. Eines hiervon ist der jahrzehntealte Christstollen, der unter der Schleppe im Glaskasten vor mir ruht und niemals ausgepackt wurde. Vor einem Schaufenster voller Briefmarken bleibt der Museumsmitarbeiter stehen. ‚Viele Menschen wissen nicht, dass es einen ausgeprägten Postkrieg zwischen dem Westen und der DDR Anfang der 70er Jahre gegeben hat. Westdeutschland verfasste Briefmarken von Vertriebenentreffen oder politischen Aussagen, die bestenfalls geschwärzt ihren Empfänger erreichten. Normalerweise wurde die Post in einem solchen Fall einfach nicht zugestellt und wieder zurückgeschickt. Mit den Vietkong-Briefmarken aus der DDR war es im Westen dieselbe Handhabe.‘ Ich beschließe noch selbst einige Fragen zum Thema DDR zu stellen. ‚Ich studiere neben dem Beruf Kulturwissenschaften mit dem Schwerpunkt Geschichte. Wir haben im aktuellen Studienbrief der Neueren Geschichte den Kniefall von Willy Brandt diskutiert. Für mich ein absolut positives Zeichen. Es wurde aber erwähnt, dass dies für die DDR-Bürger eher negativ besetzt war. Woran liegt dies ihrer Meinung nach?‘

Der Museumsführer überlegt kurz. ‚Ich kann mich in der Wahrnehmung nicht daran erinnern, dass der Kniefall negativ wahrgenommen wurde. Vielleicht aber sicherlich als eine ideologische Interpretation der Herrschenden. Wenn ich mich recht entsinne, dachte man, dass die BRD ihre Nazi-Vergangenheit nicht aufgearbeitet habe. In den 50er Jahren wurden zahlreiche Wehrmachtsoffiziere in die deutsche Verwaltung übernommen. Und nun kommt dieser Kniefall von Willy Brandt, dem Konstrukteur der neuen deutschen Ostpolitik. Wenn man die Ostblockstaaten nicht alle über einen Kamm schert, sondern differenziert vorgeht, kann man vielleicht sichtbare Stellen der Front mit Argumenten überwinden. Das erkannte Brandt. Die gesamte deutsche Westelite tat sich mit der Bewältigung der NS-Geschichte überaus schwer. Der latente unterschwellige Gang zum Rechtsextremismus entspringt eben aus dieser halbherzigen Aufarbeitung. Eine Bestands- oder Betroffenheitsanalyse hat im Geschichtsrahmen niemals stattgefunden oder wurde in einen gesamteuropäischen Rahmen gestellt.

Er reibt sich mit der rechten Hand das Kinn. ‚Woran liegt es, dass Europa so geworden ist, wie wir es heute kennen? Dies müsste bereits in den Schulen schon viel mehr aufgearbeitet werden. Der deutsche Michel bleibt hier komplett alleine und lässt sich schlimmstenfalls womöglich auf ein paar Stammtischparolen ein.‘ Ich nicke. ‚Was ich im Grunde nicht verstehe ist, dass Freunde von mir, die eigentlich mit dem DDR-System groß geworden sind, heute beim Besuch der Verwandtschaft als Wessis betitelt werden. Man wirft ihnen vor nicht mehr zu verstehen, wie es früher gewesen ist.‘ Der Museumsmitarbeiter winkt ab. ‚Das ist bei mir genauso. Ich könnte auch nicht mehr zurück. Ich habe jetzt im Denken und Handeln etwas anderes kennengelernt. In der DDR würde ich heute scheitern, dennoch war dies meine Heimat. Ich bin nicht direkt zur Wende in den Westen. Ich habe bis 1990 für diesen Staat gearbeitet. Erst dann war ich gezwungen einen Job im Westen anzunehmen. Ich hatte eben eine Familie zu versorgen. Aber weg wollte ich nicht. In Ostberlin gab es nur keine Zukunftschance.‘

Ich bleibe vor der Fotografie von Günter Schabowski stehen, der damals die Grenzöffnung ankündigte. ‚Das war doch eigentlich eine Fehlmeldung, oder?‘ fragend sehe ich meine Begleitung an. Der schüttelt den Kopf. ‚Das war keine Fehlmeldung, es war eine Provokation. Es gab ja den Befehl an den Grenzposten die Menschen mit allen Mitteln aufzuhalten, auch mit der Waffe. Bis 22 Uhr wusste der kommandierende General von der ganzen Aktion überhaupt nichts. Er hatte keine Instruktionen die Menschen durchzulassen. Wäre dies eine Fehlmeldung, wäre eine Nachricht an alle Grenztruppen gegangen. Man hat diese auf sich alleine gestellt gelassen und wollte das Blut fließt. Dann hätte die Einheiten der Nationalen Volksarmee, die vor Berlin stationiert waren, mit ihren Panzern anrücken können. Auch die Russen hätten eingreifen können. Wir können einfach nur froh sein, dass hier kein Schuss gefallen ist. Die Soldaten machten die Grenze selber auf, sie wollten nicht eingreifen. Die Maueröffnung lief komplett friedlich ab und nur dadurch ging diese Provokation zum Glück nicht auf.‘

 


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