Das Reh taucht plötzlich vor mir auf. Es springt grazil aus dem Wald und bleibt abrupt auf dem sandigen Weg stehen, der neben dem kleinen Friedhof von Waldeck entlang führt. Ich bleibe absolut starr und reglos stehen und schaue verdutzt auf das junge Tier. Sind wir den hier schon so weit in der Pampa, dass sogar Wildtiere in den kleinen Ort am Edersee kommen. Ich zücke langsam vorsichtig meinen Fotoapparat und hoffe still, das Tier möge sich noch einen Moment nicht bewegen. Hinter mir ertönt lautstark und lästig das Motorengeräusch eines großen Autos. Erschreckt hüpft Bambi sofort davon. Der Fahrer des Wagens winkt mir freundlich zu. ‚Machen Sie nur, mein Bus passt sowieso nicht ganz aufs Bild.‘ Er grinst.
Enttäuscht senke ich die Kamera und laufe hastig zur Friedhofstür. Das Reh ist weg. Lediglich der Wind säuselt leicht in den grünen Blättern der Bäume. Die wogenden Äste geben von Zeit zu Zeit den Blick auf die dunkelblaue Wasseroberfläche des Edersees frei, der friedlich unten im Talkessel ruht. Sonst ist keine Bewegung wahrzunehmen. Das gibts doch nicht. Verärgert stemme ich beide Hände in die Hüften. Da begegnet mir einmal ein solch scheues Tier so nah und ein Trottel mit Kleinbus fährt um die Ecke. Kann es denn wirklich sein, dass man die schöne Umgebung gar nicht mehr wahrnimmt, wenn man das ganze Jahr hier lebt? Zornig stapfe ich zurück zum Naturpfad, der sich am Berg entlang hinab ins Tal windet.
Der Pfad macht seinem Namen Urwaldsteig alle Ehre. An ein paar besonders steilen Stellen sind zum Glück Seile gespannt, an denen ich mich entlang hangeln kann. Mein Partner und ich möchten ins Städtchen Edertal zum ‚Tollen Haus am Edersee‘. Nachdem wir den Wald hinter uns gelassen haben, sehen wir schon das von uns angestrebte Gebäude, das auf seinem eigenen Dach ruht. Hier steht wirklich alles auf dem Kopf. Sämtliche Einrichtungsgegenstände sind am oberen Raumende befestigt, also quasi an der Decke. Mir wird ganz schwindelig, die Böden des Gebäudes sind zusätzlich schief gehalten, um den Eindruck des Kopfstehens zu verstärken. Sichtbar wird dies aber nur, wenn man von draußen auf das schräge Haus schaut. Der Fußboden des Hauses ist um mehrere Grade geneigt, was den Gleichgewichtssinn der Besucher obendrein auf die Probe stellt.
Dennoch ist die Beton-Holzkonstruktion ein vollwertiges Haus. Würde man es umdrehen, könnte man tatsächlich darin wohnen. Es gibt hier alles einer realen Einrichtung, nur eben spiegelverkehrt. Die Eingangstür steht auf dem Kopf und der Briefkasten hängt ebenfalls falsch herum. Der Tisch klebt gedeckt an der Decke und die Küchenzeile ist mit dem Herd nach unten befestigt. Die Tapete kann man am besten im Handstand begutachten und der Vogel im Käfig an der Wand befindet sich in Fledermausposition. Ich versuche mich spielerisch an die Kloschüssel zu hängen, die über mir an der Decke thront. Allerdings bin ich zu groß, da müsste ich bis zur Stirn schon mindestens in der Toilettenschüssel verschwinden. Das ist mir dann doch zu eklig. Unbenutztes Klo hin oder her. Wer weiß schon, wer da mit dem Kopf bereits drin war. Mein Partner zögert nicht. Der macht das ohne Bedenken. Ich hätte es wissen müssen…
Verrücktes Haus. Was es nicht alles gibt. Alleine schon die Idee, so etwas zu bauen.
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