Bambergs Reiter

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‚Das ist der Bamberger Reiter.‘ folgt die alte Frau meinem Blick. Gebückt geht sie am Arm ihres Enkels durch den Bamberger Dom. Ich nicke ihr stumm zu. Sie macht einen etwas verwirrten Eindruck und läuft sehr schlecht. Langsam schlurft sie mit dem jungen Mann an ihrer Seite den Kirchengang entlang. Sie weiß sicher nicht mehr alles, aber den Bamberger Reiter kennt sie noch. Die steinerne Skulptur stammt aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Ihre Bemalung ist heute nicht mehr vorhanden. Das Pferd war ursprünglich weiß mit dunklen Flecken. Die lebensgroße Skulptur aus Schilfsandstein ist gut erhalten, aber heute komplett weiß. Nur ein paar Fingerteile und ein Stück der Krone fehlen. Aufgrund der Standhöhe wirkt die sagenumwobene Figur eher klein. Die Gesamthöhe von den Kufen bis zur Krone beträgt allerdings tatsächlich über zwei Meter. Des Mannes leicht geöffneter Mund, seine gerunzelte Stirn, die Hufeisen des Pferdes, die bestickte Decke unter dem Kastensattel, das alles hat die Jahrhunderte überdauert. Jüngsten Untersuchungen zufolge soll der Mantel des Reiters einmal rot-orange geleuchtet haben. Seine noch heute erkennbaren schwarzen Augen gehörten zur ursprünglichen Bemalung. Sie geben eine Blickrichtung an, die zur leichten Kopfdrehung der Figur passt. Der Bamberger Reiter scheint in den Himmel zu schauen. Das Haar des Reiters war dunkelbraun bis schwarz. Seit nunmehr 780 Jahren steht er hier. Unverändert an immer der gleichen Stelle und unbeirrt von jeglichem Wandel der Zeiten. Stoisch hockt der Mann auf seinem Pferd und starrt aus stolzer Höhe mit gerunzelter Stirn in die Tiefe des riesigen Kirchenschiffs.

Und nur er allein kennt die Lösung des zentralen Rätsels um seine Existenz. Die Merkmale der Figur klingen für Laien wenig rätselhaft. Für Experten aber sind sie zum Verrücktwerden. Wer ist dieser Mann? Das weiß niemand so richtig genau. Ist hier ein König dargestellt? Warum hat er dann kein Schwert? Das Mittelalter kennt keine Herrscherdarstellungen ohne Schwert. Oder ist ein Heiliger gemeint? Wo sind dann seine Erkennungszeichen, die Attribute? Bis heute scheiden sich an diesen Fragen die Geister. Erhitzen sich die Gemüter. Streiten sich die Experten. Der Domreiter wird vielfach als Abbild einer historischen Person angesehen, wobei man sich nicht einig ist, welche. Weil der Reiter gekrönt ist, wird allgemein angenommen, dass ein König dargestellt ist. Damit scheiden jene Deutungen aus, die in ihm einen Kaiser sehen wollen. Und ein Pferd gehört schließlich auch nicht in eine Kirche, oder? Sicher ist, inzwischen ist die Statue so eine Art Star unter den steinernen Figuren. Da der Reiter in einer Kirche aufgestellt und kein Grabbildnis ist, nehmen manche an, es würde sich um einen Heiligen handeln. Der Baldachin über dem Steinbild wiese ihn aus. Könige, die Beziehungen zu Bamberg haben und zugleich heiliggesprochen wurden, sind Heinrich II. sowie Stephan I., der mit Heinrich II. verschwägert war. Dieser wurde 1083 heiliggesprochen und im Bamberger Dom verehrt. Heinrich war nicht nur römisch-deutscher König, sondern auch Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und wäre somit sicher als Kaiser dargestellt worden. Daher wäre Stephan I wahrscheinlicher. Der ist daher Nummer 1 auf der Deutungshitliste.hdr

Es ist belegt, dass Stephan von Ungarn in Bamberg schon sehr früh eine außergewöhnliche Verehrung genoss. In den Sagen des 12. und 13. Jahrhunderts wird immer wieder die Zartheit Stephans betont. Einer weiteren Sage zufolge soll dieser sogar bei seinem ersten Bambergbesuch, als Heide noch nicht mit den christlichen Gepflogenheiten vertraut, geradewegs in den Dom galoppiert sein. Dies würde das Pferd erklären. Die frühesten Belege für diese Überlieferung sind aber vergleichsweise jung, sie stammen aus dem 16. Jahrhundert (vom Ritt in den Dom ist sogar erst im 19. Jahrhundert die Rede). Viel spricht daher dafür, dass nicht die Skulptur auf die Legende zurückgeht, sondern umgekehrt die Legende aufkam, um die Figur zu erklären. Allerdings gibt es auch andere Deutungen: Auf dem Fürstenportal wird die Allegorie ‚Synagoge‘ von einem Baldachin überdacht. Die gekrönte Gestalt müsste also kein Heiliger sein. In Verbindung zu diesem Merkmal weist Philipp von Schwaben eine äußerst dramatische Verbindung zu Bamberg auf, der 1208 in dieser Stadt unbewaffnet ermordet wird. Er wird zunächst im noch im Umbau befindlichen Dom beigesetzt. Sein Neffe lässt ihn 1213 in den Speyerer Dom umbetten. Seitdem gäbe es im Bamberger Dom kein sichtbares Gedenken mehr an Philipp und den ersten Mord an einem römisch-deutschen König. Daher schaffte man vielleicht als Abbild den Domreiter, der waffenlos zu Pferde thront in friedvoller Manier ohne Waffen. So wurde Philipp auch neben seinen Eltern beigesetzt. Der ‚Reiter‘ verweise dann auf diesen als tugendhaftes Königsvorbild.

Sowohl Name (Philipp, gr. für Pferdefreund), vorzeitiger Tod (der während einer Hochzeit verübte Mord sorgte auf dem Frankfurter Reichstag 1208 für einen Eklat), seine Friedensliebe (er bietet dem 1206 besiegten Widersacher Otto IV. seine Tochter Beatrix zur Frau an) sowie die in Bamberg sich wiederholende Tragik, dass einem gewählten staufischen König durch vorzeitigem Tod die Kaiserkrönung versagt bleibt, sind Umstände, die mit der Außergewöhnlichkeit des Bamberger Reiters einhergehen. Dieser könne als Denkmal für den römisch-deutschen König Philipp von Schwaben verstanden werden, der durch den Besitz der Reichskleinodien und die erste Grabstätte mit dem Bamberger Dom verbunden war. Der Mittelalterhistoriker Hannes Möhring, vertrat 2004 die Auffassung, dass der waffenlose und mit einem Tasselmantel bekleidete gekrönte Reiter den am Ende der Zeiten wiederkehrenden Messias aus der Offenbarung des Johannes darstelle, den König der Könige. Er habe in den Zeiten der Kreuzzüge die Gläubigen daran erinnern sollen, dass die Feinde des Christentums (damals vor allem die Muslime), nur durch Gottes Wort wirklich zu besiegen seien. Teilweise wird in der Skulptur auch eine symbolische Abbildung der gesamten Welt gesehen. Der auf der Konsole rechts unter dem Sockel dargestellte Dämon stellt die Unterwelt dar, darüber kommt die Pflanzenwelt, dann die Tierwelt, sodann der Mensch und darüber veranschaulicht der Baldachin die schwebende Stadt Jerusalem, das Weltall. In diesem Sinne hält man die Skulptur auch für eine apokalyptische Figur wie eben den Messias.

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Die Feinde des Christentums wären nicht durch das Schwert, sondern nur durch Gottes Wort zu bekehren. Der Bamberger Reiter tritt auch hier gewaltlos auf, ohne Waffen. Er hat leicht geöffnete Lippen, wie zur Erteilung eines Befehls. Der Blick der Figur ist in die Ferne gerichtet. Dorthin, wo Ungläubige und Unglauben herrschen, die der Hauch seines Mundes (Gottes Wort) erreicht und vernichtet. Er versinnbildlicht das neue Jerusalem und die Darstellung des endzeitlichen Herrschers. Damit schließt sich der biblische Kreis. Die Deutung des Bamberger Reiters als Verkörperung von Gottes siegreichem Wort passt besser in einen Kirchenraum als andere Deutungen. Sein Standort befindet sich in einer Linie mit der Kanzel. Bisher gab es aber niemals einen reitenden Messias in der mittelalterlichen Kunst. Wer sollte sich den also wohl in Bamberg ausgedacht haben? Die neuste Spur führt dahin, der Reiter wäre gar ein Orientale. Man muss dazu eine andere Figur, nur einen Pfeiler weiter ansehen. Es handelt sich um eine Frau, die schon lange als Werk desselben Meisters gilt, der auch den Reiter schuf. Die Figur stellt wahrscheinlich die biblische Prophetin Hanna dar. Sie war die greise Frau, die den Säugling Jesus im Tempel als Messias erkennt. Thematisch sind das die Kindheitsgeschichte Jesu. Die Frauenfigur und der Bamberger Reite könnten einmal zu einem viel größeren Bildprogramm gehört haben, das Episoden aus Jesu Jugend erzählen sollte. Die meisten Figuren wären demnach heute verloren, vielleicht wurden sie auch nie ausgeführt. In diesem Ensemble müsse der Bamberger Reiter der Jüngere der Heiligen Drei Könige gewesen sein. Die anderen beiden Könige hätten möglicherweise auch auf Pferden gesessen. Vielleicht hätten Sie dem Jesuskind aber auch kniend oder stehend ihre Aufwartung gemacht.

All die Figuren könnten als Schmuck gedacht gewesen sein, als Begrenzung des Altarraums. Die Dreikönigs-These ist seit Anfang des 20. Jahrhunderts immer mal wieder vorgeschlagen worden. Beweise konnten bisher nicht erbracht werden. Dafür spricht auf jeden Fall, dass mittelalterliche Künstler es gewohnt waren, die Heiligen Drei Könige als Reiter ohne Waffen zu zeigen. Alte Akten belegen außerdem, dass der Ostchor des Bamberger Domes früher tatsächlich ein Ort war, an dem die Weisen aus dem Morgenland besonders verehrt wurden. In Gestalt eines eigenen Dreikönigs-Altars. Ähnliche Bildprogramme habe es damals in Frankreich häufig gegeben. Diese Hypothese würde zur Blickrichtung des Bamberger Reiters passen. Vielleicht schaut er einfach nach dem Stern von Betlehem. Man braucht keine hellseherischen Fähigkeiten zu haben, um vorherzusehen, dass sich die Forschung auch diesmal kaum auf die neue Identifizierung wird einigen können. So viele Leute haben sich bereits so viele Gedanken zu diesem Thema gemacht. Da sagt ja jetzt sicher keiner, ich habe mich vertan. Die Forscher und Historiker werden sich um die Identität weiter kloppen. Über die Heiligen drei Könige sagt die Bibel ja leider bekanntlich fast gar nichts. Nicht einmal, ob es überhaupt drei gewesen sein sollen. Nur, dass sie aus dem Orient stammen sollen.

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Im Dritten Reich wurde der Reiter von den Nationalsozialisten als arisches Symbol zu Propagandazwecken missbraucht. Sie wurde zum Sinnbild des nordischen Menschen stilisiert. Man sah darin den Führer vorgebildet, den das deutsche Volk erwartet, um nach der Schmach des Versailler Vertrages im Geiste der mittelalterlichen Ritteridee das deutsche Volk wieder auferstehen zu lassen. Die Skulptur wurde in offizielle Rassefibeln aufgenommen, als Beispiel für ‚das Edle des Ariertums‘. So wurde die mittelalterliche Figur lange Zeit vermutlich ihrem eigentlichen Sinn beraubt! Heute ist der Reiter ebenfalls Vorbild. Wenn auch ein anderes. Denn seit 2012 gibt es eine Reiter-Playmobilfigur. Bis heute weiß immer noch niemand sicher, wer der Mann im Sattel sein soll. Mehr als zwanzig Identitäten sind dem Bamberger Reiter schon voller Begeisterung zugeschrieben worden. Nur um anschließend mit noch größerer Begeisterung von jemand anderem wieder verworfen zu werden. Was von alledem nun tatsächlich zutrifft, ist nach wie vor strittig. Jeder untermauert seine Theorie mit Indizien, vieles bleibt pure Fantasterei. Einig sind sich alle nur in einem Punkt: Die Figur ist außergewöhnlich schön. Dazu passt auch ganz gut, dass der Reiter sich im schummrigen Mix aus trübem Tageslicht und spärlich beleuchtetem Dom einer allzu intensiven Betrachtung durch Rückzug in den Schatten quasi zu entziehen scheint. Ganz so, als wollte er sagen ‚Ihr werdet mich niemals zur Gänze entschlüsseln.‘


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