Nebel liegt über den Schornsteinen und dem bräunlichen Stahlgerippe der Zeche Zollverein in Essen. Ein Mann mittleren Alters schiebt langsam einen Kinderwagen unter der stählernen Konstruktion hindurch. Das solide Skelett hat bis heute überdauert und ragt unbeweglich und starr in den grauen, wolkenverhagenen Himmel. Von den rostigen Eisenarmen tropft der morgendliche Tau. Gleichmäßig und dumpf trifft der nächste nasse Tropfen auf den Asbest der Strasse, die zur Kokerei führt. Ich schlendere über den aufgerauten Kies zu den ersten Gebäuden. Im ehemaligen Kammgebaude haben Künstler heute ihre Galerien. Es gibt sogar ein Möbelloft. Zwischen Industrierohren und alten Turbinen türmen sich Sessel, Tische und Wohnungsdeko. In der früheren Salzverladehalle befindet sich inzwischen eine Tanzschule. Zu Weihnachten bietet das Kokereigelände genug Platz für eine Eislaufbahn. Die DMT – Deutsche Montan Technologie hat auf diesem Gelände ebenfalls ihren Sitz. Diese rettete durch eine neue Technik mit hydraulischen Hubpressen sogar den schiefen Turm von Pisa vor dem endgültigen Sturz. Man stabilisierte das Denkmal in einer vertretbaren Schieflage. Mit diesem Konzept hat man im Ruhrgebiet auch schon Industrieschornsteine und Kirchtürme gerichtet. In der alten Lesebandhalle gibt es Mode im Ruhrgebietslook in Gestalt von schwarz-weißen T-Shirts mit dem Aufdruck Grubenhelden und Babybody’s mit der Aufschrift Kohleknirps. Ebenso befindet sich hier das kleine Café Schacht. Bevor ich das hiesige Museum besuche ist es Zeit für einen Tee um die kalten Zehen weiterhin zum Laufen zu animieren.
Also steuere ich eilig und zielstrebig das zierliche Kaffeehaus im Industrielook an. Der heutige Tag hat außerordentlich frisch und kühl begonnen. Ich blicke durch die hohen Fensterscheiben auf das stillgelegte Zechegelände. Der ‚Kohlenpott‘, also das Ruhrgebiet ist längst zum Mythos geworden. Dieser speist sich im ‚Land der tausend Feuer‘ vornehmlich aus der Arbeit am Hochofen in den Stahlwerken und Kokereien, sowie dem Abbau der Kohle unter Tage. Die schwere Arbeit, der damit einhergehende Typus von Männlichkeit, die Solidarität im Betrieb und auf dem Sportplatz, sowie der Zusammenhalt im Schmelztiegel Ruhrgebiet haben dieses Bild stark geprägt. Dabei ist es unerheblich ob diese Vorstellungen noch stimmen oder längst überholt sind. Egal, ob diese zum Selbstbild oder zum Klischee des Ruhrpotts gehören. Die Industrie ist hier seit der Stadtgründung stark verankert. Daher bildeten sich Ortschaften nicht um Kirchen oder Adelssitze, sondern um die Industrieanlagen herum. Der Mensch hat tief in Landschaft und Natur eingegriffen. Halden, Senkungen und Seen sind entstanden, aber auch neue Wälder und Parks, alle Ergebnis der industriellen Entwicklung dieses Siedlungsgebiets. Vor 320 Mio. Jahren lag das Ruhrgebiet am Äquator. Die Waldmoore der Region wurden im Verlauf der Jahre zu Stein. Die daraus enstandene Kohle lockte Industriepioniere um diesen energetischen Schatz zu heben. Mit ungeheurer Kraftanstrengung schuffen sie ein riesiges, unterirdisches Reich aus Schächten, Streben, Schienen und Förderbändern. Ein gewaltiges Streckennetz verbindet die Analgen miteinander und wird zur Arbeitswelt von über 1 Mio. Bergleute. Heute sind nur noch ca. 10.000 Menschen auf 4 Zechen beschäftigt.
Seit einem halben Jahrhundert macht das Ruhrgebiet einen enormen Wandlungsprozess durch. Die einst größte Montangesellschaft ist auf dem Weg zur Dienstleistungsgesellschaft als ‚Metropole Ruhr‘. Verändert haben sich Arbeitsbedingungen, Familienstrukturen, Bildungswege, aber auch Lebensstile und Freizeit- oder Kulturverhalten. Lange Zeit empfand man diesen Strukturwandel als Bedrohung, die mit hoher Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg einherging. Doch in dem Maße, in dem die schwersten Einschnitte überstanden sind, wird dieser Wandel auch als Chance begriffen. Die Ernennung von essen zur Kulturhauptstadt Europas RUHR.2010 haben der Region neue Impulse und sichtbare Bestätigung gegeben. Die leer stehenden Zechen nund Kokereien wurden umgebaut und machten Kultur, Sport und Naherholung Platz. Wo einst gearbeitet wurde, ist heute aktive Freizeitgestaltung angesagt. Schritt für Schritt oder auch Park für Park verwandelt sich das Ruhrgebiet zu einer attraktiven Freizeitregion, die auch touristisch interessant und erfolgreich wird. Früher erstezte noch der Hinterhof die fehlende Natur. Taubenzüchter wurden damals zum Klischee der Region. Heute gibt es in vielen Städten im Ruhrpott ausladende Grünanlagen. Mit Folgen des Bergbaus hat man dennoch zu kämpfen. Zahlreiche Häuser gerieten durch die vielen Erdrutsche in unterirdischen Schächte und Stollen in Schieflage. Das Grubenwasser wird heute mit aufwendiger Technik abgepumpt und in Ruhrgebietsflüsse oder -kanäle geleitet, etwa 100 Millionen Kubikmeter pro Jahr. So verhindert man die Überflutung der noch im Abbau befindlichen Grubenfelder, aber auch weiter Teile des Ruhrgebiets, die durch Bergsenkungen keinen natürlichen Abfluss mehr besitzen.
Seit dem Mittelalter ist der Abbau von Steinkohle an der Ruhr belegt. Im 18. Jh. erkannte auch Preußen seine Bedeutung, Beamte kontrollierten nun die Bergwerke. Die Fördermengen und staatlichen Einahmen stiegen, immer mehr Bergleute arbeiteten im Ruhrgebiet. Mit dem Abbau von Eisenerz entstand ein neuer Wirtschaftszweig. Die Holzkohle diente bei der Herstellung als Brennstoff. Zu Beginn des 19. Jh. konnte man Eisen schließlich zu Stahl verarbeiten und daraus neue Produkte herstellen. In der zweiten Hälfte des 19. Jhs. kam es zu einer engen Verbindung von Kohle und Stahl, Koks fand massenhaft Verwendung in der Eisenherstellung. Gleichzeitig wurde für die Förderung von Kohle und den Bau der Industrieanlagen immer mehr Stahl benötigt. Die Unternehmen schuffen ein Netz aus Anlagen um alle Arbeitsschritte in der Hand zu behalten. Oberirdisch bestand das Ruhrgebiet nun aus einer Vielzahl von Zechen, Hüttenwerken, Kokereien und Stahl produzierenden bzw. weiterverarbeitenden Betrieben. Unterirdisch erschlossen diese immer neue Kohlevorkommen. Ein riesiges Schienennetz entstand und verband die Zechen bald auch unter Tage. Das Bild der Ruhrgebietsstädte war durch die rasant wachsenden Fabrikanlagen bestimmt. Markante Orientierungspunkte waren die Schornsteine der Kokereien und die Fördertürme der Zechen. Konzerne wie Krupp lagen als eigene ‚Städte‘ neben den alten Siedlungskernen und unterhielten Tochterunternehmen in anderen Städten. Fabrikhallen türmten sich über riesige Areale.
Aus England kam die Erfindung der Dampfmaschine ins Ruhrgebiet mit der standortunabhängig Energie erzeugt werden konnte. Dort hatte die Industrialisierung wie auch in Belgien und Frankreich früher als in Deutschland eingesetzt. Nun ließen sich auch abseits von Gewässern oder Wassermühlen industrielle Anlagen errichten. Eisen und Stahl konnten in bisher nie gekannten Mengen hergestellt werden. Da die heimische Schwerindustrie vor allem für den Export produzierte, mussten die Massenprodukte auf nationalen und internationalen Märkten abgesetzt werden. Man versuchte als erfolgreichen Vertriebsweg internationale Ausstellungen und Messen zu erschließen. Die Konzerne der Montanindustrie schlossen sich zu mächtigen Kartellen und Unternehmensverbänden zusammen. Dabei verbanden sich ihre wirtschaftlichen Interessen mit der Ideologie des Kaiserreichs, dessen imperiale Rüstungsprogramme die Schwerindustrie im Ruhrgebiet weiter ankurbelten. Enge Beziehungen verbanden die Rüstungsproduzenten mit der politischen Führung des Kaiserreichs. Bereits am Ende des 19. Jhs. hatte die Industrie im Ruhrgebiet ihren Höhepunkt erreicht. Die herausgebildeten Strukturen blieben bis zur Krise in den 1950er Jahren relativ unverändert. Die durch die Industrialisierung geformte Gesellschaft des Kaiserreichs bestand aus Klassenzugehörigkeit. Diese beeinflusste Lebenschancen, Arbeits- und Wohnverhältnisse sowie Gestaltungsmöglichkeiten der Freizeit. Entsprechend profitierten die gesellschaftlichen Kreise ganz unterschiedlich vom wirtschaftlichen Aufschwung. Im Ruhrgebiet trat die soziale und kulturelle Distanz zwischen Großbürgertum und Arbeiterschaft besonders markant hervor. Allerdings gab es auch andere, z. B.- konfessionelle oder ethnische Trennlinien. In dieser von Widersprüchen geprägten Gesellschaft entwickelten sich die charakteristischen Lebensweisen der Ruhrgebietsbevölkerung.
Bis in die jüngste Zeit galt der Ruhpott als unruhige, aufrührerische Region. Vor allem die Massenstreiks der Bergarbeiter begründeten diesen Ruf. Streiks als kollektive Arbeitseinstellung von Arbeitnehmern setzen im Bergbau bald nach dem Ende des preußischen Direktionsprinzips in den 1860er Jahren ein. Die Zechen waren nun privatwirtschaftliche Betriebe. Aus Bergleuten wurden Lohnarbeiter. Gegen die gefährlichen und schweren Arbeitsbedingungen, die neben den Schäden an der Natur die Gesundheit der Ruhrgebietsbewohner gefährdeten, richteten sich die Forderungen und Streiks der entstehenden Arbeiterbewegung. Der konzentrierte Einsatz von Maschinen führte zu einer höheren Arbeitsproduktivität, aber auch zu höheren gesundheitlichen Belastungen. Der steigenden Produktivität stand nur eine verzögert einsetzende und langsame Reduktion der Arbeitszeit gegenüber. Sie betrug um 1900 durchschnittlich 62 Stunden bei einer 6-Tage-Woche. Körperliche Belastung, Wechselhaftigkeit und Unsicherheit der Lebensverhältnisse waren grundlegende Merkmale der Arbeiterexistenz. Hiergegen und gegen die niedrigen Einkommen richteten sich die Aktivitäten der Arbeiterbewegung. Der Streik war ein Mittel Lohnerhöhungen, 8-Stunden-Schichten, sowie die Abschaffung willkürlicher Strafen und Lohnabzüge gegenüber den Unternehmern mit Nachdruck vorzubringen. Durch die beiden Weltkriege kam dem Ruhrgebiet zweimal eine Doppelfunktion zu, die seine Bedeutung als montane Industrieregion in Deutschland zementierte. Es war Rüstungszentrum in den Kriegen und anschließend Kristallisationskern des Wiederaufbaus.
Im 1. Weltkrieg trafen der Hunger, im 2. Weltkrieg die Bomben das Ruhrgebiet besonders hart. Zwischen den Weltkriegen kam es daher zu revolutionären Erhebungen. Ein Nachspiel des 1. Weltkriegs in der Region bildete die Besetzung der Ruhr durch die Franzosen und Belgier von 1923 bis 1925. Der Ruhrpott zahlte damit die Zeche nicht nur für den deutschen Rückstand in den Reparationszahlungen, sondern auch für die verheerende deutsche Kriegsführung in Frankreich und Belgien von 1914 – 1918. Dies gelangte kaum ins Bewusstsein der Mehrheit der Deutschen. In den beiden Weltkriegen trug das Ruhrgebiet als wichtiges Rüstungszentrum erheblich zur deutschen Kriegsführung bei. Hunderttausende Zwangsarbeiter mussten im 3. Reich in Zechen und Rüstungsbetrieben für den Krieg gegen ihre Heimatländer arbeiten. Mehr als 6.000 Juden wurden hier ermordet. Der Ruhrpott war ein bedeutender Massenproduzent von kriegswichtigen Gütern. Die NS-Propaganda postulierte die ‚Waffenschmiede des Reiches‘. Ebenso dachten die Alliierten und so wurde die Region eines der Zentren ihres Bombenkrieges. Nach 1945 spielte das Ruhrgebiet eine zentrale Rolle für Westdeutschland, seine Wirtschaft und sein politisches Selbstverständnis. Die Ruhr wurde zum wirtschaftlichen Kraftzentrum der jungen Bundesrepublik Deutschland. Das Gebiet wurde erneut Zentrum der Montanindustrie. Weitere zukunftsfähige Industriezweige, um den Ruhrpott wirtschaftlich abzusichern, wurden damals wider besseres Wissen nicht gefördert. Die Kohlekrise der späten 1950er Jahre traf das Ruhrgebiet daher völlig unvorbereitet in Zeiten des Wirtschaftswunders. DerKohleabsatz brach massiv ein, Importkohle, Öl und Gas waren einfach preiswerter. Ölpipelines und -raffinerien wurden gebaut und Kokereigas durch importiertes Erdgas ersetzt. Es folgte ein bis heute anhaltender Strukturwandel. Er war geprägt von einem massiven Zechenstreben.
Als die ersten Zechen Feierschichten einlegten, war dies der Auftakt einer schweren Strukturkrise. Die Politik förderte die Einfuhr billigerer Energieträger und setzte die Kohle unter Druck. Auch die Stahlproduktion stand in einem verschärften internationalen Wettbewerb. Ab den 1970er Jahren schlossen auch Stahlfabriken und Hochöfen. Die Stahlkrise traf die gesamte westdeutsche Stahlindustrie, die in Konkurrenz zu Werken in Osteuropa und den Schwellenländern stand. Als Reaktion investierte die Branche in moderne Stahlwerke. Proteste der Bergleute und Stahlarbeiter prägten jahrelang das Bild an der untergehenden Ruhr. Kleinere Belegschaften erzeugten jetzt mehr und hochwertigeren Stahl. Dem Ruhrgebiet fehlten junge, zukunftsfähige Industrien, wie sie sich während Krieg und Wiederaufbau besonders in Süddeutschland angesiedelt hatten. ‚Ohne Schornstein kein Brot‘, so hieß die Devise der Ruhrindistrie. Kokereien, Krfatwerke und Hochöfen brachten jahrelang ihre Aschen und Stäube ungefiltert in die Luft. Schadstoffe gelangten in Luft und Boden. Die Wirkung auf Mensch und Umwelt nahm zu. Ab 1960 kam es deshalb erstmals zu Protesten. Der Himmel über der Ruhr sollte wieder blau werden. Ergebnis ist das Ende des Steinkohlebergbaus in Deutschland 2018, der eine stark rationalisierte Industrie und eine moderne Produktionswirtschaft zurücklässt, die sich nun neuen Ertragsfeldern widmet. Stillgelegte Industrieareale und riesige Brachflächen prägten nach 1980 das Bild vieler Ruhrgebietsstädte. Abrissfirmen und Sprengexperten beseitigten die meisten Fördertürme und Hochöfen. Chinesische Firmen verfrachteten ganze Stahlwerke nach Asien.
Seither ist das Ruhrgebiet von hoher Arbeitslosigkeit geprägt. Verschärft wird die Situation durch weiteren Stellenabbau infolge der Globalisierung. Neue Armut und soziale Gegensätze, oft räumlich an Stadtteile und Wohnviertel gebunden, spitzen sich zu. Neue Messverfahren offenbarten das ganze Ausmass der Zerstörungen durch die Ruhrpottindustrie. Politik und Industrie einigten sich auf verbindliche Grenzwerte für Schadstoffe. Ein dichtes Netz von Messstationen überwacht seitdem deren Einhaltung. Heute reduzieren aufwendige Filter- und Kläranlagen spürbar die Belastung. Dennoch sind die Folgen der exzessiven Industrialisierung noch überall sichtbar und allgegenwärtig: In den Böden befinden sich Altlasten und das Grundwasser ist verschmutzt. Dies muss aufwendig saniert und kontrolliert werden. Das Ruhrgebiet muss noch lange damit klar kommen. In den abgesackten Bergbaugebieten wird man bis in die Ewigkeit Wasser pumpen, damit Menschen hier leben können. Heute wird Industriekultur allerdings ganz anders, nämlich oftmals positiv bewertet. Die alten Zechen und Werksanlagen verbindet der Begriff Industrieromantik. Trotz Dauerkrise ist der Bergbau mit wenigen Bergleuten bis heute erhalten geblieben und die Stahlindustrie erlebte Anfang des 21. Jh. sogar einen Boom. Ich lege den Kopf in den Nacken und spüre die warmen Strahlen der Nachmittagssonne auf meinem Gesicht. Es liegt kein Wölkchen am Himmel. Immerhin, inzwischen ist der Himmel über der Ruhr wirklich wieder blau.