Die Bahnstation zu Füßen der Villa Hügel in Essen liegt völlig einsam da. Ich blinzele in die stark blendenden Strahlen der Mittagssonne. Im weitläufigen Park um das schmucke Anwesen zwitschern ein paar Vögel. Die Wasseroberfläche des Baldeneysees glitzert in der Ferne dunkelblau im goldenen Sonnenschein und gemächlich schwappt das flüssige Gold über die seichten Wellen des ruhigen Wassers. Ich kann bis zu den Schleusen am Seeende sehen. Wir haben eine neue hübsche Seite von Essen entdeckt und gefunden. Nur wenige Spaziergänger sind außer uns unterwegs. Früher wohnte in dem schönen Villengebäude die Familie Krupp. Unter einer kleinen Brücke schlendern wir hindurch und am Pförtnerhäuschen vorbei. Auch heute noch muss hier jeder Besucher zunächst die Behausung des Türhüters passieren. Liebevoll dekoriert mit Backsteinen und Holzsäulen passt diese wunderbar zum herrschaftlichen Wohnhaus im Hintergrund. 1873 wurde das Gebäude von der Kruppfamilie bezogen und diente bis 1945 als Wohnhaus. Heute steht das Herrenhaus unter Denkmalschutz. Im Garten darum sind viele der Baumriesen über 200 Jahre alt. Dennoch ist die Gartenanlage fast zu strukturiert und akkurat angelegt. Ich mag lieber verwilderte, verwunschene Rasenflächen und unsymmetrisch angeordnete Wildblumen.
Alfred Krupp war anscheinend nicht der geduldigste Mensch. Um schnell Ergebnisse zu sehen und eine lauschige, grüne Umgebung zu erschaffen pflanzte er tw. Bäume ein, die zu diesem Zeitpunkt bereits 50 Jahre alt waren. Er hatte keine Lust zu warten bis junge Setzlinge groß wachsen wollten. Die Baumnachkommen gaben ihr übrigens hinzu und heute stehen hier knapp 7.000 knorrige Baumstämme mit einer dichten, dunkelgrünen Blätterkrone. Das Ruhrgebiet hat eine ganze Reihe an schwerindustriellen Großunternehmen hervorgebracht. Keines kann sich allerdings mit der Geschichte von Krupp messen. Die Firma wurde aus kleinsten Anfängen gegründet und hatte es schwierig sich zu etablieren bis diese zum Konzern aufstieg. Nach beiden Weltkriegen landete die Krupp-Gesellschaft im tiefen Fall und stieg doch jeweils wieder auf, was zu dieser Zeit niemand für möglich gehalten hätte. Ungewöhnlich lange, über 5 Generationen, stand die Familie selbst an der Spitze der Geschäftsführung. Sie gründeten Dutzende von Arbeiterwohnheimen, Kindergarten und Erholungshäusern sowie das Alfred-Krupp-Krankenhaus und engagierte sich dadurch in der Sozialfürsorge. Mitten in Essen lag die ‚Krupp-Stadt‘ mit Fabrikanlagen, firmeneigenen Werksbahnen und Arbeitersiedlungen. Während der industriellen Hochphasen gab es hier für fast 20 % der Bevölkerung von Essen Beschäftigung.
Durch die Zerstörungen im 2. Weltkrieg und die anschließende Demontage ist allerdings derzeit von diesem riesigen Areal kaum etwas übrig geblieben. Eine erhaltene Werkzeughalle dient heute als Musicaltheater. Über eine Stahlbrücke, früher das Tor zur ‚Krupp-Stadt‘, fährt man heute in das Parkhaus von Ikea. Grau erhebt sich die Stahlkonstruktion aus vergangenen Zeiten. Damals kamen hier tausende von Arbeitern auf dem Weg zur Schicht durch. Jetzt wird Essen von der Firma ThyssenKrupp lediglich als Verwaltungsstandort genutzt. Ich rüttle an der schweren Eingangstür der Villa Hügel. Das Museum darin ist heute leider geschlossen. Durch die verstaubten Fenster blicke ich ins Innere des stattlich aufragenden Gebäudes. Ich erhasche einen nebligen Blick auf stuckverzierte Decken. Die hoch aufstrebenden Regale sind aus dunklem Eichenholz und schmiegen sich gleichmäßig zu einer stabilen Bücherwand aneinander. Ein paar Ölgemälde geben ihre Malerei nicht preis, diese liegen völlig im Dunkeln. Allein im Haupthaus verteilen sich auf rund 4.500 m² über 100 Räume. Ich lasse von dem schweren Tor ab und blicke mich suchend um. Eine Toilette gibt es anscheinend leider nur im Ausstellungsgebäude drinnen. Ich schlage zielstrebig den Weg zum Pförtnerhäuschen ein. Freundlich frage ich den Herren der Eingangsschranke nach dem nächsten Bad. Er winkt mir zu. ‚Da müssen sie hier hereinkommen. Die Ausstellung ist ja heute zu.‘ Er weist mir den Weg zu einer einfachen weißen Tür. ‚Da rein.‘ dirigiert er mich. ‚Aber nicht abschließen, sonst kommen sie nicht mehr raus.‘ Na toll, denke ich. So ein blödes Gefühl. Mir wird ganz komisch zumute.
Jetzt sitze ich hier, bei lose angelehnter Tür und nebenan ist ein Fremder. Der wird ja wohl jetzt hoffentlich mal nicht hereinschauen. Ich beeile mich so gut es in meiner Situation eben geht. Plötzlich klingelt mein Telefon. Mein Partner ruft an. Ich kann natürlich jetzt nicht dran gehen, obwohl mir das lieber wäre. Dann könnte ich von dem suspekten Pförtner und der offenen, ominösen Tür erzählen. Wahrscheinlich fragt er sich, wo ich abgeblieben bin. Vielleicht denkt er ja, ich hätte jemanden getroffen, der mir eine tolle Geschichte erzählt. Super Aussichten! Ich öffne vorsichtig die leicht geöffnete Tür und schiebe mich hinaus. Es passiert natürlich nichts. Der Pförtner schaut noch nicht mal auf. ‚Tschüss!‘ rufe ich laut und spaziere durch den Ausgang auf den grünen Rasen und hinein ins helle Sonnenlicht. Mein Freund winkt mir in einiger Entfernung schon zu. Treppen führen uns wieder hinab zum kleinen Bahnhof. Die Stufen sind von der Witterung der Natur verzogen und unharmonisch verformt. Die ersten romantischen, zierlichen Fachwerkhäuser zeichnen sich bereits in der näheren Umgebung ab. Ich erzähle natürlich ganz genau meine haarsträubenden Gedanken während der letzten Minuten. Erleichtert und vergnügt hüpfe ich die Straße zur Zugstation hinab. Nach meinem ausführlichen Bericht schüttelt mein Freund ungläubig den Kopf. Dann lächelt er. ‚Wenn es das Genre Horrorfilme nicht schon gäbe, würdest du es wahrscheinlich erfinden!‘