Familientag am Wasserfall

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Mein Auto beherbergt heute wertvolle Fracht. Ich mustere das Gesicht der kleinen Tochter meines Partners, die auf dem Rücksitz sitzt. Leider bekommt unser Teenager Kopfschmerzen, wenn er länger als eine Stunde im Wagen fährt. So muss man bei einem Wochenendausflug die Belange aller berücksichtigen. Das gehört einfach dazu. Genauso wie die Familie zu mir, auch wenn ich die Kinder nicht selbst geboren habe. Die Töchter meines Freundes sind 13 und 16 Jahre alt. Mir wurde schon öfter gesagt, ich wäre vermutlich eine gute Mutter. Das denke ich auf jeden Fall auch, nur vermutlich keine Glückliche. Ich mag meinen Freiraum. Mein Partner und ich haben getrennte Wohnungen. Ich kann einfach die Tür abschließen und den Rollladen runterfahren, wenn ich das so will und die Außenwelt aussperren. Im Oktober 2018 habe ich zusätzlich ein Studium der Kulturwissenschaften mit Schwerpunkt Literatur und Geschichte begonnen. Derzeit bin ich im zweiten Semester. Das nimmt zusätzlich viel Zeit in Anspruch. Meinen Blog möchte ich auch niemals ganz missen. Und dennoch ist die Familie aus meinem Leben nicht mehr wegzudenken. Vor ein paar Tagen habe ich mich selbst dabei ertappt, dass ich Liliane Susewind angeguckt habe. Völlig allein. Es war keine Familie bei mir. Es ist der Familienalltag, welcher mich hier beeinflusst. Und das ist absolut gut so. Ich will das niemals mehr anders haben.

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Ich weiß noch, als ich das erste Mal gehört habe, dass die Mädels zu meinem Freund ‚Papa‘ sagen. Das fand ich extrem komisch, eigentlich fast befremdlich. Ich wusste ja nicht, dass man in die Elternrolle einfach so hineinfindet. ‚Ist das nicht seltsam für Dich?‘ habe ich skeptisch gefragt und ein achtloses Schulterzucken als Antwort bekommen. ‚Das bin ich eben für die.‘ Da hat er recht. Der Unterschied zu mir ist einfach, dass er ins Familienleben hineinwachsen konnte. Er war bei der Geburt dabei und kennt seine Töchter logischerweise ihr ganzes Leben. Ich hatte am Anfang Berührungsängste. Es gab ja keine Kinder in meinem Leben. Was man nicht kennt, vermisst man bekanntlich nicht. Ich weiß noch genau, wie lange ich überlegt habe, als die Familie mich kennenlernen wollte. Mein Partner hatte ein Treffen vorgeschlagen. Ob das zu mir passt, dachte ich? Irgendwann kam ich dann mal vorbei und fand ganz schnell meinen Platz in unserem Familienkonstrukt. Dieser Alltag als Bezugsperson und Freundin macht mich komplett. Ein Mutterersatz wollte ich nie sein. Ich habe mich einfach an die Morgen gewöhnt, an denen Kinderhände an die Schlafzimmertür geklopft haben, weil mit dem scharfen Messer Gurke fürs Pausenbrot geschnitten werden musste. Seit 3 Jahren kenne ich die Mädels nun schon. Manchmal spiele ich vor dem Frühstück schon Uno oder Elfer Raus und es sind bevorzugt meine Socken, die die Waschmaschine vor Ort frisst. Deshalb hatte ich auch schon zwei verschiedene Strümpfe an. Das hat nur mich gestört, niemanden sonst.

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Dennoch, ich liebe diese Tage. Rasch habe ich mich an das Familienleben gewöhnt. Und jetzt sind auf einmal Teenager da. Die Töchter werden groß. Schneller als mir lieb ist. Wo ist denn bitte schon wieder die Zeit hin? Jetzt muss ich mich wieder umstellen. Immerhin haben unsere Jugendlichen überhaupt noch Lust auf uns, da können wir uns glücklich schätzen. Familie ist für mich inzwischen die Priorität Nummer Eins. Auch, wenn ich nicht die richtige Mutter bin und Kinder eigentlich gar nicht in meinem Leben eingeplant habe. Plötzlich war nichts mehr wichtiger als das. Mein Leben und Studium muss sich hier unterordnen. Schließlich kann man alles nachholen, nur die verronnene Zeit ist für immer vorbei. Familie und die gemeinsamen Erlebnisse sind überaus wichtig. Daher hatten wir an diesem Tag beschlossen gemeinsam wegzufahren. Unser Ausflug führt uns heute nach Bad Peterstal-Griesbach. Einer unserer Teenager will unbedingt ans Wasser. Ich parke das Auto. Wir wollen zum Holchenwasserfall wandern. Alle steigen aus. Ich schließe den Wagen ab. Der Weg bergan entpuppt sich bald zu einer hübschen Wanderung. Um uns liegen die bewaldeten, dunkelgrünen Tannenhänge des schönen Schwarzwalds. ‚Lisa, lass das!‘ reißt mich jemand aus meinen Gedanken über Familie und was mir diese bedeutet. ‚Wenn Du auf Dein Handy und nicht auf die Straße schaust, wirst Du noch überfahren. Das ist gefährlich!‘ Der Tochter meines Partners hat recht. Hinter mir kommt ein Auto lautstark angebraust und rauscht lärmend an uns vorbei. Ich stecke mein Telefon gehorsam in die Tasche.

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Der Teenager fängt ein paar Pollen vor meiner Nase weg, schließlich bin ich ja Allergikerin. ‚Jetzt nach links, oder? Holchenwasserfall, 3,6 Km.‘ Triumphierend deute ich auf ein Schild, das zum Himmelssteig weist. Nur der Höllensteig fehlt, aber da befinden wir uns bestimmt sowieso, wenn wir bergab laufen. Jetzt geht es erstmal bergan. ‚Wir sind ja schon oben, wir sehen schon das Tal.‘ ruft unsere Jugendliche. Wir haben bisher 100 m zurückgelegt. Ich schaue auf meinen Schrittzähler. ‚Super, ich hab schon 1.000 Schritte und wir haben noch nicht mal angefangen.‘ juble ich. ‚Da ist doch ein kleiner Wasserfall!‘ mein Partner zeigt auf das Gestrüpp am Wegrand. Mühsam plätschert ein kleiner Strudel über die Gräser der Umgebung. ‚Da können wir ja jetzt umdrehen.‘ unser Pfad geht steil hinauf. ‚Wo ist die Bank?‘ keuche ich und stemme beide Hände in die Hüften. ‚Da hoch?‘ frag ich schwer atmend und folge dem ausgestreckten Arm den Hang hinauf. Ich zucke teilnahmslos die Achseln. Runter komme ich sicher irgendwie. Weit gekommen sind wir ja noch nicht. Die zauberhafte Aussicht entschädigt mich für die Strapazen.

An einer Schautafel halten wir an. ‚Also das musst Du jetzt erstmal alles durchlesen.‘ weist mein Partner unseren Teenager an. Es geht darum, dass Ziegen in der Ortenau als natürlicher Rasenmäher fungierten. Das Mädchen schüttelt den Kopf. Ist ja auch ein furchtbar langweiliges Thema. Unbeirrt davon liest mein Freund uns jetzt vor. Ziegen als Landschaftspfleger. Unter meine Schuhsohlen knirscht der Kies des Waldbodens. Am Wegesrand stehen lilafarbene Blüten des Fingerhuts. Weit ragen zarten Blumen aus dem grünen Gras hervor. Unter uns schlängeln sich die blauen Flächen des örtlichen Schwimmbads dahin. In Coronazeiten natürlich ohne Wasser. ‚Ich nehme nur noch Wege, die ebenerdig gehen.‘ informiere ich die Familie völlig atemlos. An den runden, graubraunen Fladen am Wegesrand erkennen wir, dass auch Pferde unseren Pfad nehmen. Bei dieser Steigung ist das für mcih irgendwie überraschend. Ich puste lautstark aus. Ich brauche ganz dringend richtige Wander- oder Trekkingschuhe und kämpfe ums Ankommen. Hinsetzen ist langsam eine gute Idee. In der Luft liegt das feine Rauschen von strömendem Wasser. Es klingt, wie das leise Summen in einem Bienenstock. Beständig wird die Tropfenmelodie lauter. Wir nähern uns also dem Holchenwasserfall. Im Wald ist es wunderbar kühl und angenehm. Auch auf solch schwierigen und anstrengenden Pfaden.

Immer volltönender wird das Plätschern des Wassers irgendwo vor uns. ‚Deine Schuhe sind auch ziemlich durch, oder?‘ fragt mein Freund. Ich habe die ältesten Treter an, da es egal ist, ob diese dreckig werden. ‚Kauf Dir schon mal Neue, ich nehme diese dann mit. Könnte sein, dass die aktuellen gleich auseinanderfallen. Dann kommst Du ja leider nicht mehr mit zurück.‘ Die Schuhe sind eigentlich schon ausgemustert und die Sohle ist bestimmt bald durchgelaufen. Recht hat er natürlich trotzdem. Er fügt grinsend hinzu. ‚Ich möchte auf jeden Fall zu Protokoll geben, dass ich dann schon mal weiterlaufen darf und nicht auf Dich warten muss.‘ Das sensible und kontinuierliche  Dröhnen der Wassermassen vor uns wird immer lauter. Vögel zwitschern zart gegen das aufkommende Brummen an. Den Aufstieg haben wir anscheinend geschafft. Ich schlurfe über die Wurzeln, die sich über den Waldboden gelegt haben. Dankbar ergreife ich die Hand meines Freundes. Jetzt nur nicht auf den letzten Metern stolpern. ‚Brauchst Du auch eine Hand?‘ frage ich unseren Teenager. Sie schüttelt den Kopf. ‚Ihr seid ja vor mir, zur Not falle ich also auf Euch.‘ Sie lächelt verschmitzt. Der Blick um die nächste Weggabelung gibt den Ausblick auf die zierlichen Kaskaden frei. Ein kleiner Waldweg führt zum Wasser.

‚Da ist eine Blindschleiche, Mama.‘ ruft ein kleiner Junge. ‚Kommst Du bitte mal?‘ Igitt, ich schaue skeptisch und zögerlich über das schmale Brückengeländer aus hellgelbem Holz. Zum Glück ist keine Schlange zu sehen. Neben mir am Wegesrand ist eine Theke aus Massivholz angebracht. Hier kann man ein Radler oder eine Apfelschorle trinken. Mein Freund zieht eine Flasche aus dem nächsten Kasten. Die Bezahlung erfolgt auf Vertrauensbasis. Diese ist in eine kleine metallene Box an einem Baumstamm auf der gegenüberliegenden Waldseite zu entrichten. Selbst gebrannte Schnäpse gibt es natürlich für einen kleinen Obulus auch. Der Boden unter unseren Füßen ist von gelblichen Kiefernadeln übersät. Sie knirschen trocken unter meinen Schuhsohlen. In der Nähe des Holchenwasserfalls ist es merklich frisch. An einem heißen Tag wie heute eine Wohltat. Glücklich setzte ich mich auf eine Holzbank am Wasser. Darunter schlängelt sich das glasklare, durchsichtige Wasser entlang des Weges. Schon die russische Zarin Maria Alexandra hatte hier am Holchenwasserfall ihren Lieblingsplatz, wenn diese den Schwarzwald besucht hat. Ein sanfter Sprühregen weht vom Wasser auf mein Knie und legt sich kühl auf die von der Sonne gewärmte Haut. Am Berghang vor mir steht ein geschnitztes Holzherz umringt von dunkelgrünen Kiefern. Die Aufschrift lautet Herzlich Willkommen! Also ist die Familie wohl am Ziel.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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