Ganz Worpswede ist durchzogen von winzigen Wegen, an denen ebenso zierliche Häuser stehen. Ausladende Gärten zieren kleine Fischteiche und von Efeu bewachsene Fassaden geben den Blick auf schmale weiße Terrassenstühle frei. Nacktschnecken kriechen langsam und gemächlich über die von Wurzeln gesäumten und vom morgendlichen Tau feuchten Waldpfade. Eine braune Schicht von welken Baumnadeln überzieht den überschaubaren Waldsteig gleich einem dicken, undurchdringlichen Teppich. Kleine Lämmer mähen gut hörbar auf den angrenzenden Wiesen und Feldern. Aufgeplatzte Eicheln liegen achtlos im kniehohen Gras. An den frei stehenden Häusern hängen Bilder und Kunstwerke. In den Gärten stehen fein und liebevoll gemeißelte Statuen. Dazwischen verstecken sich Künstlerateliers. Von jenen, die hier einst gearbeitet haben und solchen, die jetzt noch hier leben. Jeder ist freundlich und ohne Hast. Kaum fährt ein Auto an den weitläufigen Grundstücken mit ihren großen parkähnlichen Anlagen vorbei. Gemütlich spaziere ich durch diese vollkommene Idylle. Die gesamte Kunst liegt in dieser schönen Umgebung so friedlich da, das selbst ein Kunstbanause wie ich daran Gefallen findet. Einsam reihen sich die reetgedeckten Bauernhäuser entlang der Moorkanäle. Still dreht eine alte Windmühle ihre hölzernen Flügel. Geheimnisvoll und ruhig präsentiert sich das gesamte Örtchen an diesem Wochenende.
Eine Kolonie als Lebens- und Arbeitsgemeinschaft für Künstler gibt es in Worpswede schon seit 1889. Emilie, der Tochter der Kaufmannsfamilie Stolte, ist es zu verdanken, dass Worpswede vom unbedeutenden Moordorf zur weltbekannten Künstlerkolonie aufstieg. Diese hatte nämlich den Kunststudenten Fritz Mackensen kennengelernt. 1884 lud sie diesen in ihr Elternhaus ein. Aus einem ersten Besuch wurden mehrere und schließlich ein Aufenthalt auf Dauer. Nachdem sich zum Studenten noch einige Malerfreunde hinzugesellt hatten, bildete sich der Kern des Künstlerdorfes. Der Ort wurde dadurch zur Heimat bedeutender Maler des Jugendstils, sowie des Im- und Expressionismus. Zur „Stadtflucht“ der Künstler führten neben dem Interesse für Licht, den ländlichen Motiven oder den markanten Landschaften auch romantische Sehnsüchte nach bäuerlicher Idylle und nach einem einfachen, naturnahen Leben. Die berühmte Paula Moderson-Becker ist eine der ersten Künstlerinnen in Worpswede. Allerdings ist Frauen damals noch der Zugang zur Kunstakademie verwehrt. Darum ist privater Unterricht üblich. Sie wird daher von den männlichen Kollegen als ‚Malweib‘ betitelt.
An einem Nachmittag im August 1900 läutet sie zu Spaß mit ihren Freundinnen die Kirchenglocken der ansässigen Kapelle. Die Worpsweder denken dadurch, ein Feuer im Ort sei ausgebrochen. Eigentlich sollten die Frauen zur Strafe je 100 Mark zahlen. Aus Geldmangel leisten sie jedoch in Absprache mit dem Pastor Ersatz. Sie dekorieren die Kirchenempore. Sieht man die heutige Bekanntheit der Malerin Moderson-Becker und das viele Geld, das für ihre Bilder bezahlt wird, so ist Worpswede in diesem Falle sehr preisgünstig weggekommen. Einst verkannt, gilt Paula heute als eine der bedeutendsten Wegbegleiterinnen der deutschen Moderne. Ihre Strafarbeit ist auch noch heute in der Kirche zu bestaunen. Sie lernt das Künstlerdorf 1897 kennen und schwärmt davon ihren Eltern vor. Sie wird eine enge Freundin vom Maler Rainer Maria Rilke und stellt in Worpswede ein umfangreiches Werk her. In der Bremer Kunsthalle stößt die junge Malerin aber auf immense Ablehnung und entscheidet sich, auf weitere Ausstellungsbeteiligungen zu verzichten. 1901 heiratet sie Otto Moderson und ringt weiter mit sich und der Malerei. Gegen alle Konventionen strebt sie als Frau und Künstlerin nach Unabhängigkeit. Wichtige Impulse erfährt sie auch bei ihren Reisen nach Paris.
Anders als den männlichen Kollegen in Worpswede geht es ihr um das Wesen der Dinge, das sie sichtbar machen will. Sie beschäftigt die Einfachheit in Form und Farbe. Als Paula Moderson-Becker wenige Wochen nach der Geburt ihrer Tochter Mathilde mit 31 Jahren stirbt, sollen ihre letzten Worte ‚Oh, wie schade!‘ gewesen sein. Zu dieser Zeit ging mit Beginn des 1. Weltkriegs für das Künstlerdorf allerdings bereits länger eine Ära zu Ende. Einige Maler sind schon gar nicht mehr vor Ort. Im Leben und Schaffen der Künstler brach ab 1933 eine unsichere Zeit an. Werke wurden als ‚entartet‘ beschlagnahmt und aus den Museen entfernt. Bilder von Paula Moderson-Becker gehörten auch dazu, wurden aber dennoch gezeigt. Otto Moderson erhielt damals Auszeichnungen. Seine Kunst stand hoch im Kurs. Die Nationalsozialisten nutzen die von ihnen bevorzugte Malerei zu Propagandazwecken. Künstler wurden im Laufe der Jahre Mitglieder der NSDAP und der Reichskulturkammer oder versuchten es zu werden. Wer nicht derart organisiert war, hatte keine Möglichkeit über Bezugsscheine Arbeitsmaterial zu bekommen. Er war mit Ausstellungs- oder Berufsverbot konfrontiert. Diese Situation machte Künstler zu Mitläufern und Unterstützern des Regimes. Andere wurden zu Opfern, suchten die innere Emigration, das Exil oder sogar den Freitod.
Nach dem 2. Weltkrieg brach in der Künstlerkolonie eine neue Zeit an. Der Zukunft zugewandt kommen erneut zahlreiche Künstler und Kunsthandwerker in den kleinen Ort. Von nun an gilt Worpswede als Weltdorf und beliebtes touristisches Ziel. Mit Gründung des Vereins ‚Atelierhaus Worpswede‘ wird das Künstlerdorf 1971 Stipendiatenstätte. Die Stipendiaten der Bildenden Kunst und Klangkunst arbeiteten in insgesamt zehn Ateliers für die Dauer von drei bis sechs Monaten. Internationale Gäste aus den Sparten bildende Kunst, Literatur und Musik lebten und arbeiteten am Ort, einige blieben dauerhaft. Diese Form der Künstlerförderung ist zum damaligen Zeitpunkt einmalig. 80 bedeutende Maler, Schriftsteller, Musiker und Kunsthandwerker haben auf dem Friedhof hier ihre letzte Ruhestätte gefunden. Darunter sind Fritz Mackensen, der Entdecker Worpswedes als Künstlerdorf und Paula Modersohn-Becker. Paulas Ruhestätte übt für viele Menschen, die den ansässigen Friedhof besuchen, eine besondere Anziehungskraft aus. Beherrscht wird das Monument von einer aus Gussstein gefertigten halb entblößten, zurückgesunkenen, lebensgroßen Frauengestalt. Auf ihrem Schoß sitzt ein kleines nacktes Kind, das einen Apfel in den Händen hält. Die Darstellung soll dem Schicksal der Malerin, die wenige Tage nach der Geburt ihrer einzigen Tochter gestorben war, Ausdruck verleihen und den Kreislauf von Werden und Vergehen symbolisieren.
1989 feierte Worpswede sein 10-jähriges Bestehen als Künstlerdorf. Man blickt zurück auf die Entstehung als Bauerndorf und den heutigen Schmelztiegel kreativer Kräfte bis zur Gegenwart. Im Fokus steht natürlich wieder Paula Moderson-Becker. Es wird deutlich, dass Worpswede wie jedes andere Dorf die Höhen und Tiefen der Zeitgeschichte erlebt hat. Dieser Ort ist ein Kaleidoskop künstlerischer Strömungen für Kunstinteressierte. Oder sogar für mich. Vielfalt und Beständigkeit prägen das Weltdorf als einzige bestehende europäische Künstlerkolonie, die seit der Gründung durchgehend lebendig geblieben ist. 1989 verzeichnete die Künstlersiedlung über 100 ortsansässige Maler und Kunsthandwerker. Dann bin ich hier also in einem Mittelpunkt der Geschichte. So scheint es mir. Ich stehe an der örtlichen Bushaltestelle direkt vor einem der Kunstmuseen. Kein Fahrzeug kommt vorbei. Ein paar Minuten später biegt der Bus um die Ecke. Ich springe auf und werfe beide Arme in die Luft. Dann winke ich was das Zeug hält. Ein junger Mann tut es mir gleich. Gemächlich rollt das ausladende Gefährt an mir vorbei, ohne Anzuhalten! Ich sehe den rollenden Rädern hinterher und schaue auf den Fahrplanaushang. Der Bus fährt nur stündlich. Herzlichen Willkommen in Worpswede. Sie sind am Nabel der Welt!
Von Worpswede kannte ich bis heute nix, außer dem Namen. 🙄
Danke fürs Mitnehmen und Vorstellen!
Liebe Grüße,
Werner
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Man kommt auch nicht leicht hin und wieder weg 😊LG
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