Wat(t) is los?…

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Meine Gummistiefel versinken im matschigen Boden. Wenn ich nicht mit beiden Füßen ständig auf der Stelle trete, schmiegt sich der weiche, lehmfarbene Sand fest an meine Schuhe und lässt diese nicht mehr los. Kleine Wasserrinnsale suchen sich ihren Weg über das grüne Gummi und perlen in den sandigen Untergrund. Ich hatte mir im Nationalparkhaus in Wangerooge ein bisschen zu große Schuhe geliehen und stehe bereits mitten im Watt. ‚Moin.‘ begrüßt uns unsere Wattführerin Simone. ‚Schauen wir mal wie das Wetter wird, oftmals hält es sich ja nicht an die Vorhersagen des Internets.‘ Sie sieht unsere Gruppe schmunzelnd an. ‚Ich hoffe, dass es nicht regnen wird und wir keine Schauer abbekommen.‘ Ich stapfe ihr über einen weichen Pfad hinterher durch den graubraunen Schlamm. Sie legt eine Landkarte auf den feuchten Untergrund. Ich erkenne die gesamte Ausdehnung des Wattenmeeres. Drei verschiedene Länder haben Anteil daran. Deutschland, die Niederlande und Dänemark. ‚Wenn man die gesamte Küstenlinie der Erde betrachtet, dann sind 96 % steil und steinig. Nur 4 % der Küste gehört daher zu einem Wattenmeer, wir sind hier im Größten. Das ist einzigartig. Wangerooge ist genau in der Mitte.‘ erklärt unsere Wattführerin sichtbar stolz.

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‚Das ist ein besonderer Lebensraum hier. Einer der wichtigsten sogar für weit wandernde Tierarten auf der ganzen Welt. Denkt man gar nicht oder? 12 Millionen Zugvögel kommen hier jährlich durch und fressen sich hier rund für ihre lange Reise. Wenn wir gerade auf das Watt gucken, entdecken wir dort erstmal gar nichts. Das Besondere hier ist, dass sich das gesamte Leben im Wattenmeer versteckt. Nicht wie in der Serengeti, wo man Gnus und Löwen sieht. Deshalb habe ich meine Grabgabel mit, damit wir die Tiere sehen können.‘ Simone schwingt die Schaufel. Ich schnäuze mir lautstark die Nase. Unser Standort ist ungemütlich kalt und nass. Einige Kinder rennen um meine Füße und verspritzen durch ihr lebendiges Spiel den braunen Schlamm des Bodens. Ich nehme Abstand von den lebhaften Jungen. Worauf ich stehe, ist richtiger, echter Meeresboden. ‚Hier sind schon eine ganze Menge Tiere anwesend.‘ erklärt unser Wattguide. Sie hält ein winziges Wesen auf der ausgestreckten Hand. ‚Das ist eine Strandkrabbe. Sie hat diese zwei Scheren und vorne zwei Stielaugen. Die kann man sehen, wenn man genau hinguckt.‘ Das Tier stellt sich tot, liegt völlig starr und regt sich nicht. Diesen Auflauf an Menschen ist es wohl nicht gewohnt. Ein bisschen habe ich Mitleid mit dem zierlichen Krebstier, aber will ja auch etwas im Wattenmeer sehen.

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Über uns gleiten die kleinen Flugzeuge des Inselairports dahin. Kontinuierlich erklingt das Geräusch des Motors der Maschinen in der Luft und schwebt als stiller Ton und monotones Summen über dem Boden des Wattenmeeres. ‚Hier graben wir jetzt nach Muscheln.‘ informiert uns Simone. Ich schaue auf den undurchdringlichen Boden und fange an zu buddeln. Zwei gefleckte Muscheln tauchen im Sand auf. Gleichzeitig bläst der Wind die losen Sandkörner kräftig in mein Gesicht. Ich weiß nicht, ob ich diesen Ausflug gut finden soll. Es ist eisig kalt. ‚Guck mal, welche Muschel ich gefunden habe Mama.‘ sagt ein kleines Kind neben mir und hebt entzückt die mickrige Schale in die Höhe. ‚Es gibt so viele Unterarten an Muscheln.‘ meldet sich unsere Wattführerin. ‚Ich glaube mehrere 100 sogar. Eine Herzmuschel, die kann man essen.‘ Sie deutet auf das Fundstück des Kindes und hält mit der anderen Hand eine glatte rosa Schale hoch. ‚Und das ist die hübscheste Muschel, die wir hier haben. Eine Schwertmuschel. Diese gibt es in Gelb, Rosa, Blau oder Weiß, also in verschiedenen Farben. Sie gräbt sich ein, wenn ihr sie auf den Boden legt. Was denkt ihr braucht eine Muschel eigentlich zum Leben und trinkt sie z.B.?‘ Neugierig auf unsere Antworten sieht Simone uns an.

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Das kleine Mädchen neben mir legt nachdenklich und schüchtern einen ihrer zierlichen Fingerchen an die Lippen. ‚Wasser!‘ sagt sie dann laut. ‚Die Muschel braucht bestimmt Wasser.‘ Lächelnd sehe ich den Zwerg an. Dies ist naheliegend, davon gibt es hier genug. ‚Genau.‘ lautet die Antwort unseres Guides.‘ Aus dem Meerwasser erhält sie alles was sie benötigt. Sauerstoff zum Atmen, sie hat Kiemen wie ein Fisch. Also entweder sie lässt sich direkt mit Wasser volllaufen oder sie streckt so etwas wie einen Strohhalm an die Wattoberfläche, um Flüssigkeit einzusaugen. Einige Arten leben ja unter dem sandigen Untergrund, die brauchen immer diesen Rüssel um zu Trinken. Gelegentlich müssen sich diese auch weiter hoch graben, wenn ihre Strohhalme vom Sand zugeweht wurden. Nehmen Sie jetzt bitte mal ein paar der Tierchen auf die Hand.‘ Suchend blicke ich mich um, von Muscheln oder sonstigem Getier keine Spur. Jemand drückt mir ein paar herzförmige Schalen in die Hand. Ich bedanke mich. ‚Naja, sie sind eben auch so dunkel, man erkennt diese kaum.‘ Die Frau zuckt die Achseln und winkt ab.

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Simone winkt uns alle zu sich. ‚Bleibt mal still stehen und versucht bitte, dass dabei das Wasser vor Euren Füßen ganz klar bleibt. Legt einfach mal die Herzmuscheln auf den Boden. Diese müssen merken, dass sie wieder auf dem Wattenmeer sind, denn dann graben sie sich in den Untergrund ein. Ihr seht dann eine kleine weiße Zunge, die zwischen den Muschelhälften hervorkommt. Damit drehen sie sich auf die richtige Seite, damit ihr Strohhalm ans frische Meerwasser kommt.‘ Ich lege meine Herzmuschel auf den sandigen Untergrund. Ungeduldig recke ich das Gesicht nah an den Schlamm. Erstmal bewegt sich die Muschel überhaupt nicht. Das kleine Tier ist in einer abwartenden Schockstarre. Nichts passiert. Nach einer Weile dreht sich die Schale dann tatsächlich. Stück für Stück versinkt diese im groben Sand. Fasziniert fixiere ich die Stelle, an der nun die kleine Herzmuschel verschwindet. ‚Die großen Muscheln sitzen ziemlich weit unten.‘ informiert uns Simone. ‚Ich würde Euch jetzt gerne in Gruppen zu 3 Personen einteilen. Bitte füllt dann einen dieser Becher halbvoll mit Wasser.‘ Sie hält ein Gefäß hoch. ‚Ich grabe gleich für jede Gruppe ein Loch in den Wattboden. Dann sollt Ihr Euch bitte einen Wattwurm einsammeln. Solange bis alle versorgt sind, dann schauen wir uns die Tierchen an.‘

Meine Hände verschwinden abrupt in den Taschen meines Mantels. Ich mache vorsichtig einen Schritt zurück. Zum Glück rennt eines meiner Gruppenmitglieder begeistert auf den ausgestreckten Becher zu. Wattwurm fangen muss für mich nun nicht sein. Ich denke, die Begegnung mit dem Wattenmeer und seinen Lebewesen ist mir bereits interessant und intensiv genug. Muschel auf der Hand ja, Wattwurm definitiv nein. ‚Also, da ist einer.‘ jubelt die blonde Urlauberin. Der Wattwurm platscht in unser Glas mit Wasser. Vorsichtig begutachte ich den braunen Gesellen. Er hat keine Augen, zumindest sieht es so aus. Also starrt er mich sozusagen völlig blind an. ‚Ihr müsst die Wattwürmer natürlich nicht auf Eure Hand nehmen. Ihr könnt aber!‘ instruiert uns unsere Wattführerin. Ich schüttle still den Kopf. ‚Jeder dieser Würmer hat ein dickes und ein dünnes Ende. Das kann man sehen. Das dicke ist der Kopf mit Fressmuschel ohne Zähne. Gerade stülpt er diese aus, weil er sich gerne im Becher eingraben würde. Er verträgt Tageslicht nämlich ganz schlecht. Wo er wohnt, ist es immer dunkel. In der Mitte hat er viele Borsten, die er einziehen kann. Der Wattwurm nutzt diese, um besser hin- und herzukommen. Die komischen roten Dinger dazwischen sind Organe, die rauswachsen. Mit ihnen atmet er unter Wasser. Das sind seine Kiemen.

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Sein Hinterteil ist völlig blank und hat sogenannte Sollbruchstellen. Ein Stück von seinem Popo kann er nämlich abschnüren. Dadurch kann der Wattwurm manchmal sein Leben retten, falls ein Vogel nach ihm schnappt. Er lebt in einer Röhre. Ihr habt diese ja gesehen, als ich gegraben habe. Der Kanal geht senkrecht und macht dann im Boden einen Bogen um zur Oberfläche zurückzukommen. Seine Behausung hat also zwei Eingänge. Sand fällt ihm von der ersten Haustür kontinuierlich in die Fressmuschel hinein. Ist er vollgefressen, legt er den Rückwärtsgang ein und drückt all den Sand, den er in sich hat auf die Oberfläche. Er will ja weiterfressen. An jedem Sandkorn leben mehr Tiere und Pflanzen als Besucher in das Stadion des BVB gehen. Also mehr als 80.000 Personen. Der Wattwurm verdaut die lebenden Tiere direkt vom Sand weg. Das ist sein Essen.‘ Na immerhin. Der Wattwurm verliert vielleicht sein Hinterteil, aber nicht sein Leben. Bis zu 30 Mal kann man ihm das Ende abknipsen. Ziemlich oft also. Fast bin ich neidisch auf den unansehnlichen Lebenskünstler. Besser so, als gänzlich ohne Popo!


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