Ich steh am Strand bei Nacht…

IMG_20190918_172856Der Wind bläst eisig und kräftig in meinen Mantel. Straff gebläht flattern die gehissten Flaggen hektisch an den Fahnenmasten oberhalb der Uferpromenade. Unter meinen Schuhen knirscht der sandige Kies. Urplötzlich spuckt die Dunkelheit direkt vor mir eine überschaubare Touristengruppe aus. Alle machen gerade auf den Nordfriesischen Inseln Urlaub. Wir nehmen an einer nächtlichen Tour durch Wangerooge teil. David, der uns heute durch die Dünenfinsternis führen wird, stellt sich kurz vor. Er studiert in Nordrhein-Westfalen Geografie und macht gerade ein Praktikum im örtlichen Nationalparkhaus. Die Einrichtung wird vom Naturschutzbund unterstützt und hat sich zur Aufgabe gemacht Inseltouristen für den besten Umgang mit Natur und Tierwelt zu sensibilisieren. ‚Wir wollen heute Nacht unsere Sinne schärfen für Dinge, die wir tagsüber nicht sehen.‘ bereitet unser Naturführer alle auf den düsteren Rundgang vor. Das klingt ja sehr geheimnisvoll. Gespannt recke ich das Kinn. Da bin ich mal gespannt! Am Horizont vor mir blinken grell die hellen Leuchtfeuer, die den Schiffen in der Nachtschwärze den Weg weisen. Wir schlendern an der Uferpromenade entlang.

‚Wir blicken hier auf einen Teil der Deutschen Bucht.‘ informiert uns David. ‚Die Nordsee gilt als einer der größten Schiffsfriedhöfe der Welt. Man schätzt, dass über 3.000 Frachter hier verunglückt sind. Die Gründe dafür sind vor allem falsche Standortbestimmung. Wenn man nicht weiß, wo man sich befindet, kann man gefährlichen Strecken natürlich nicht ausweichen. In der Nordsee gibt es sehr viele Sandbänke und Untiefen, die leider auch noch sehr dynamisch sind und unstet ihre Position verändern. Fahrwasser, die vorher sicher waren, können schon nach einigen Monaten unpassierbar sein. Dadurch kam es zu sehr vielen Schiffsunglücken. Der Mensch erfand Leuchtfeuer, um dies zu verhindern. Früher bestanden diese aus einfachen Holz- oder Ölfeuern, inzwischen hat man natürlich andere Lichter, die man dort draußen gut sieht.‘ Sein Zeigefinger deutet auf die grell aufflammenden Lichter am grauschwarzen Horizont. ‚Sie nehmen ein helles Licht hier rechts und ein weniger auffälliges auf der linken Seite wahr. Sehen Sie das alle?‘ Wir nicken eifrig und er scheint zufrieden. ‚Das in etwa 17 oder 18 km Entfernung aufleuchtende Licht blinkt immer einmal lang und zweimal kurz. Beobachten Sie das mal! Dies besondere Signal sendet nur genau dieser Leuchtturm und man erkennt diesen daran. Er heißt Tegeler Platte und steht als Offshoreturm 17 Meter tief im Boden mitten im Meer. Er wurde an nur einem Tag erbaut und warnt seither die vorbeikommenden Schiffe. Hinter ihm befinden sich Sandbänke und die Stelle ist nur etwa 2,5 Meter tief. Das ist für die meisten Dampfer unpassierbar.‘

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Er wendet sich dem weißen Dauerleuchten auf der linken Seite zu. ‚Das ist der Leuchtturm Alte Weser. Seinen Vorgänger ‚Roter Sand‘ kann man bedauerlicherweise nur tagsüber sehen. Er ist der erste Offshore-Leuchtturm und heute nicht mehr aktiv. In ihm kann man sogar übernachten, muss aber sehr schnell mit der Reservierung sein. Die Buchung ist sehr begehrt und schnell ausgebucht, obwohl die Nacht über 600 Euro kostet. Alternativ werden Tagesausflüge ab Bremerhaven für 99 Euro angeboten. Allerdings ist es bei einem Wellengang über einem Meter nicht möglich hinzukommen und sie können dann auch nicht abgeholt werden. Evtl. können Sie ja dann kosten übernachten.‘ Er grinst schelmisch. Eine ältere Frau schaut skeptisch. Ihre Stirn legt sich in Falten. ‚Eine gute Geschäftsidee, aber nur wenn es genug Essen gibt.‘ David beendet die Diskussion. ‚Leuchttürme sind übrigens rot-weiß, weil die Farbe auffällig ist und gut gesehen wird. Sie dürfen auch grün-weiß sein und es gibt sogar blau-weiße. Heute werden alle aus der Ferne gesteuert. Leuchtturmwärter gibt es leider nicht mehr.‘

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Der Wind pfeift mir ordentlich um die Ohren und reißt an meiner Kleidung und den Haaren. So völlig ohne Sonne ist es am Ufer Wangerooges in dieser Jahreszeit empfindlich kalt. Ich klappe den Kragen meines Mantels nach oben und beobachte meinen Atem, der zu einem durchsichtigen Nebel erstarrt in der Luft hängt. Das Getöse des Windes wird von der Umgebung zurückgeworfen und begleitet mich mit einem kontinuierlichen Rauschen bei jedem neuen Schritt. Ein Handyklingelton versinkt als fades Echo in dem wilden Wüten der kalten Böen. Die Natur ist übermächtig. Die Stimme unseres Inselführers zerschneidet kärglich und heiser die frostige Luft. Ich kann ihn kaum hören. David dreht sich hilflos zu seiner Gruppe um. ‚Dieses weiße Licht dort blinkt alle 5 Sekunden. Das ist Helgoland, 43 Km von hier. Der Leuchtturm hat eine Blinkkraft von 30 Millionen Teelichter. Das könnten Sie nachmachen, gestaltet sich aber etwas aufwendig. Der Schein dieser großen Anzahl Kerzen leuchtet etwa 50 Km weit und würde auch auf dem Festland gesehen. Dieser Leuchtturm und jener auf Wangerooge bilden praktisch die leuchtenden Torpfosten für die Innere Deutsche Bucht. Hier sehen wir noch ein paar weitere Lichtquellen. Sie blinken grün und rot. Das sind die Fahrwassertonnen. Kommt man von der See und möchte in den Hafen einfahren weisen diese den Weg. Auf der Steuerbordseite die grünen Tonnen, auf der Backbordseite die Roten. Jade-, Weser- und Elbefahrwasser sind die drei Strecken, die durch die Innerdeutsche Bucht führen. Das Jadefahrwasser wird hauptsächlich von Öltankern genutzt. Das ist sehr gefährlich. Der Bremsweg dieser Ungetüme beträgt bei voller Fahrt 8 Km, die Hälfte der Insel Wangerooge. Deswegen fangen die meisten Tanker schon bei Borkum an zu bremsen, um sicher nach Wilhelmshaven zu kommen. Ein Wunder, dass hier noch nichts Schlimmes passiert ist.‘

Er holt mit der rechten Hand über der aufbrausenden Nordsee aus. ‚Weitere Schiffe, die hier regelmäßig fahren, sind Containerschiffe. Im Osten der Insel kann man sogar bis zum Containerhafen in Wilhelmshaven blicken. Oder man erblickt die Militärschiffe der Deutschen Marine. Im Weserfahrwasser kreuzen viele Passagierschiffe, die z. B. nach Bremen fahren. Im Elbefahrwasser fahren oftmals Fähren, auch z.B. nach Hamburg.‘ Er deutet auf die unbewegliche Linie von dunklen Schiffsilhouetten, die in der Ferne reglos auf der tosenden finsteren Meeresoberfläche ausharren. ‚Diese Frachter parken gerade, d. h. sie sind auf Reede. Wahrscheinlich warten sie auf ihre Lotsen, große Schiffe dürfen nur mit Lotse in den Hafen fahren. Geparkt wird in einem extra Bereich neben dem Fahrwasser. Oftmals verbringen viele Kreuzer lieber die Nacht auf See, wenn diese auf ihren Termin im Hafen warten. Eine Nacht dort zu liegen kostet bis zu 10.000 Euro und ist sehr teuer. Man fährt daher nur kurz zum An- bzw. Abladen vor Ort. Bei Sturm sammeln zwei Schleppern die Schiffe, die sich vom Liegeplatz losreißen wieder ein. Ein bewachter Parkplatz also.‘ Er lächelt ausladend über seinen eigenen Witz.

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Wir steigen die Treppenstufen von der Uferpromenade zum Café Pudding hinunter. David fährt unbeirrt fort. ‚1846 stand hier nicht diese schöne Location, sondern auf dem Hügel wurde eine Seebarke errichtet. Diese hatte den Zweck den alten Leuchtturm in der Nordsee zu verdecken. Damals hatte man keine Leuchtbojen, man konnte also nur tagsüber passieren. Wenn Schiffe nachts hier lang gefahren sind, mussten sie genau dann anhalten, wenn sie in einer Linie mit dem unbeleuchteten Seezeichen standen und der Leuchtturm verdeckt wurde. Sie warfen Anker, Weiterzutuckern war zu gefährlich. 1914 wurde die Seebarke gesprengt. Im 2. Weltkrieg wurde hier ein Bunker gebaut. Seit 1949 gibt es jetzt das Café Pudding. Es hat seinen Namen vom ‚einmal um den Pudding gehen‘. Man kann es ja auch in einem Spaziergang umrunden.‘ Unsere Gruppe nimmt die Stufen hinauf auf die Strandpromenade. Unser Tourguide hat Lust auf Anekdoten. Überaus ernst wendet er sich an die Gästemenge ‚Es gibt eine Erklärung von den Ostfriesen, wie das wohl kommt, dass die Nordsee sich immer wieder zurückzieht. Kann jemand hier einigermaßen Plattdeutsch?‘ Niemand meldet sich. David blickt in die Runde. ‚Ich bräuchte einen Freiwilligen, der dies vorlesen könnte.‘

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Er hält ein Blatt in die Luft und mustert uns. Keiner der Touristen fasst sich ein Herz. Er fährt unsicher fort. ‚Dann versuche ich das mal.‘ Er liest im Dialekt etwas vor, was ich überhaupt nicht verstehe und erläutert uns dann die Bedeutung. Es ist schon lange her, dass der Herrgott das Land hier gemacht hat. Am nächsten Tag hat er das Wasser rund um die Welt gemacht, welches auch in Ostfriesland bis zum Deich gekommen ist. Da schaute das Wasser neugierig über den Deich und sah einen Ostfriesen. Da hat es sich so erschrocken und ist schnell weggelaufen. Nun kommt es zweimal am Tag wieder und schaut, ob der Ostfriesenmann noch da ist. Das ist die Erklärung von Ebbe und Flut. Leute, die das nicht wissen, die erzählen von den Gezeiten und der Mond hätte dieses Phänomen verursacht. Ein Gelächter geht durch unsere Gruppe. David fährt fort. ‚Wollen wir die Gezeiten einmal nachspielen? Ich bräuchte einmal 3 Freiwillige. Einen für die Erde.‘ Er deutet wahllos auf einen Urlauber aus unserer Gruppe. ‚Du musst bitte in die Mitte kommen, denn Du bist das Zentrum. Du bist der Mond und du die Sonne.‘ Er dirigiert das zögerliche Publikum in die richtige Position und zeigt uns die Planetenkonstellation der Gezeiten. Er findet nicht wirklich die Lage der Planeten, das Publikum lacht. Sonne, Mond und Erde stehen recht verloren in unserer Mitte. Ich glaube, David ist von der Praktikumsstelle ins kalte Wasser geworfen worden und kennt sich eigentlich nicht wirklich aus.

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Ich denke, der freundliche Student aus Nordrhein-Westfalen hat es überaus schwer heute zu bestehen. Er weiß einfach vieles nicht, aber er gibt sich Mühe. Ich blicke auf den dunklen Horizont und fühle mich an der Uferpromenade einfach wohl. Die vielen blinkenden Lichter auf der schwarzen Meeresoberfläche lassen mich erahnen, wie viel Leben es in der Umgebung gibt. Aber die leuchtenden Signale markieren auch die Gefahr, führt doch ein unüberlegtes Kommando womöglich zum Unglück. Ich verfolge das kontinuierliche, immerwährende Aufflammen in der düsteren Finsternis. Die Nacht ist so klar, dass man viele Sternbilder sehen kann. Winzige Himmelskörper streuen sich wie zierliche Goldplättchen über den weiten, schwarzen Horizont. Fasziniert blicke ich ins undurchdringliche, nächtliche Firmament. Ich höre lautstark die Wellen ans Ufer rauschen. Mein Partner macht mich auf den kleinen und großen Bären aufmerksam. In der griechischen Mythologie erzählte man sich, dies wären Menschen, die von Göttern verbandt wurden. Da haben eine ganze Menge Leute bestimmt großen Mist gebaut. So weit oben zu sitzen ist vermutlich sehr einsam. Immerhin profitiert zumindest eine Person davon, weil sie sich furchtbar gerne die Sterne anschaut. Ich!

 

 

 


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