‚Auf der rechten Seite sehen Sie jetzt das Naturschutzgebiet Flinthörn. Der Name kommt daher, dass früher die Schiffe hier ihren Ballast, den Flinte, abgeworfen haben, um ihren Tiefgang zu verringern. Zwischen den angeworfenen Steinen sammelte sich dann wieder Sand, dieser wuchs an und wurde irgendwann nicht mehr von der Nordsee umspült. So gewannen die Ostfriesischen Inseln neues Land dazu. Heute ist das gesamte Areal ein großes Naturschutzgebiet und Rastplatz und Brutplatz für Vögel.‘ dröhnt die Stimme des Kapitäns undeutlich aus den Lautsprechern. ‚Wir haben hier im Wattenmeer gleich Hochwasser.‘ fährt er fort. ‚Der Wasserspiegel ist dann einen halben bis dreiviertel Meter höher als sonst. Dann schauen wir mal wie der Seegang heute ist. Ich denke wir lassen uns ein wenig durchschaukeln. Ich darf Ihnen noch mein Boot die ‚Langeoog II‘ vorstellen. Sie ist 32m lang, 7m breit und hat einen Tiefgang von 1m. Also ein sehr flaches Fahrzeug, das dadurch gut im Wattenmeer schwimmen kann. Wir befördern bis zu 260 Passagiere, zusätzlich zu einer Besatzung von 4 Personen. Das sind Kapitän, Steuermann und zwei Matrosen.‘ Das Geräusch der laufenden Motoren schwingt während unserer Fahrt sonor und monoton im Hintergrund mit. Ich sitze auf dem Oberdeck des Ausflugkahns und werde heute in der Nordsee fischen gehen. Diese hat eine größere Tierdichte als der Amazonas, wenn auch leider keine derart Farbenprächtige. Es handelt sich eher um Kleintiere wie Krebse und Wattwürmer, die sich auf dem Meeresgrund aufhalten.
Unser Boot schlängelt sich durch die Sandbänke zwischen den Inseln. Diese ändern sich durch die Gezeiten und die Dynamik des Meeres in jedem beginnenden Jahr neu. ‚Es kann jetzt noch einmal verstärkt zu Schiffsbewegungen kommen. Bitte suchen Sie sich einen Sitzplatz und halten Sie sich gut fest.‘ weist einer der Matrosen die Besucher an. Wir fahren hinaus auf die offene See. Durch den unruhigen Wellengang rutsche ich permanent auf meinem Platz hin und her. Den anderen Fahrtgästen geht es ganz genauso. Ein paar Passagiere haben einen recht gequälten Gesichtsausdruck. Mir wird zum Glück nicht schlecht und bald darauf beruhigt sich das Meer. Ich spaziere in den Bug. Ein großes Frachtschiff zieht in der Ferne an unserem Boot vorbei. Ich lehne mich ans Geländer und schaue auf die blaue Wasseroberfläche der deutschen Bucht. ‚Alle Passagiere begeben sich jetzt bitte aufs Achterdeck.‘ kommandiert der Kapitän aus den nachhallenden Lautsprechern. Der Platz um mich füllt sich. Wir beginnen mit dem Fischen. ‚Nun können wir loslegen.‘ freut sich einer der beiden Matrosen und reibt sich die Hände. Beide lassen ein dunkles Netz an einer langen Leine in das Wasser. Die dichten Maschen versinken sofort unter dem trüben Wellengang. Gespannt und neugierig schaue ich über die Reling. Ich kann in den dunklen, undurchsichtigen Wogen überhaupt nichts erkennen.
Einer der Seeleute begrüßt alle. ‚Recht herzlich willkommen auf dem Achterdeck der Langeoog II. Mein Kollege lässt hier gerade schon unser kleines Schaunetz zu Wasser. Das ziehen wir an einem kleinen, ca. 25m langen Drahtseil in einer Wassertiefe von 4 bis nachher 7m hinter uns her. Dieser teil des Wattenmeeres zwischen den Ostfriesischen Inseln und dem Festland wird auch als Kinderstube der Nordsee bezeichnet. Verschiedene Fischarten wachsen hier auf bis sie groß genug sind, um sich in der offenen See zu paaren. Deshalb werden wir gleich auch eher kleinere Fische, Krabben und Granate in unserem Netz haben. In diesem Teil des Meeres werden fast ausschließlich Shrimps gefangen. Jeglicher Speisefisch wird viel weiter nördlich gefischt. Die Nordsee ist kein tiefes Gewässer, im Durchschnitt gerade mal 30m. Hier und da ein paar größere Löcher, aber viel tiefer ist sie eigentlich nicht. Dieser gelbe Ball an unserem Netz ist die sogenannte Blase. Früher hat man dafür Tierblasen genommen, daher der Name. Diese hat zwei Aufgaben: Wenn sich unser Fischernetz verfängt und wir dieses verlieren, können wir es mittels Kugel wiederfinden. Sollten wir zu schnell sein, verschwindet diese unter Wasser. Wenn wir Matrosen sie nicht mehr sehen, können wir den Kapitän informieren und die Geschwindigkeit drosseln. An den gelben Tonnen, die Sie Steuerbord schwimmen sehen sind Muschelfelder angebracht. Die jungen Miesmuscheln werden ausgesät und nach ein paar Jahren von Muschelfarmern geerntet.‘
Der Seemann fährt fort. ‚Früher haben die ostfriesischen Hausfrauen die gefangenen Krabben gepult. Inzwischen werden diese nach Marokko verschifft und dort zu einem ganz geringen Stundenlohn verarbeitet, bevor sie wieder nach Deutschland transportiert und verkauft werden. Bis zu 10 Tage nach dem Fischen gelten Fisch und Meeresfrüchte als frisch. Nur bei der Angabe fangfrisch können Sie sicher sein, dass diese nicht älter als 24 Stunden sind. Es gab auch mal einen Versuch eine Krabbenpulmaschine zu bauen, aber wie wir Menschen sind die Shrimps dafür alle zu unterschiedlich. Der Ausschuss war dadurch zu groß. Garnelen sind übrigens Zwitter, den Stress mit der Partnersuche ersparen sie sich. Daher vermehren diese sich auch ohne Ende und können daher niemals überfischt werden. Bei den Fischen hier ist das anders, die lässt man leider gar nicht mehr richtig auswachsen. Früher gab es hier 7m lange Thunfische. Sandgarnelen sind übrigens das Gold der Nordsee, besser bekannt als Granat. Sie können sich farblich dem Meeresboden anpassen. Erst wenn man sie kocht, spalten sich die Farbpigmente auf und die Krabbe wird rot.‘ Einer der Matrosen hängt über dem Geländer der Reling und schaut auf unser ausgeworfenes Netz. Er wendet sich an seinen Kollegen. ‚Da müssen wir jetzt alle mal die Daumen drücken. Wir hoffen, dass das Netz richtig herum liegt. Den Fang werden wir nachher in diesen Bottich ausleeren, sodass Sie diesen länger begutachten können. Sollten wir gefährliche Tiere darin haben, sagen wir es vielleicht. Wir könnten z. B. Taschenkrebse und Seeskorpione fischen.‘ Die etwa 60 Ausflugsgäste drängen sich um den dunkelgrünen Plastikbehälter.
Es wird merklich kühler. Ein Tee wäre jetzt nicht schlecht. Im Bordcafé wird Grog gegen die kalte Meeresbrise verkauft. Dafür bleibt allerdings jetzt keine Zeit, das Netz wird eingeholt. Es hat sich zum Glück nicht gedreht, wir haben etwas gefangen. Kritisch beäuge ich das Maschenknäuel. Der Matrose neben mir beschwichtigt. ‚Sie brauchen keine Angst haben, bitte die Meeresbewohner nicht anschreien.‘ Kräftig zieht die Winde den Fischfang an Bord dieser landet im vorgesehenen Eimer. Zwischen Anhäufungen von Seetang tummeln sich Garnelen, kleine Flundern, Krebse und Seesterne. Ein Tourist entdeckt sogar eine Seespinne in dem Meeresgewusel. Die Seeleute sortieren kurz den Fang. Einer der beiden hält einen Fisch auf dem Handrücken. Dessen Körper sieht aus als wäre er zusammengepresst worden. ‚Alle sagen Scholle, das ist aber keine.‘ informiert der Matrose uns. ‚Schade, dass wir keinen Biologen an Bord haben. Das ist ein Plattfisch. Diese fängt man immer nachts, da sie sich dann im Sand eingraben und zu dieser Zeit auf Krabben lauern. Ihre Flecken sind auf dem Meeresgrund eine gute Tarnung. So flach sehen diese übrigens nicht ihr ganzes Leben aus. Wenn sie schlüpfen, sehen sie noch aus wie normale Fische. In der Pubertät wandert dann ein Auge auf die andere Seite des Körpers und der Fisch wird hauchdünn.‘ ‚Ein Seestern und Babyfische.‘ flüstere ich begeistert. Der Seemann wendet sich mir zu. ‚Aha, das haben Sie also erkannt.‘ Er hebt einen Minifisch in die Höhe und grinst. ‚Ist doch schon fast eine Mahlzeit.‘
Er packt einen der Krebse an der Rückenplatte und hält den zappelnden Gesellen zwischen zwei Fingern in die Luft. ‚Das ist das, was wir hier am häufigsten haben, die sogenannte Strandkrabbe. Dies ist ein ganz prächtiges Exemplar. Ein Spinnentier mit 8 Beinen und hier vorne einem Paar Scheren.‘ Hilflos schließen sich die kleinen Greifarme im leeren Raum der Luft. ‚Dieses Tier ist die Müllabfuhr der Nordsee. Es frisst alles, was auf dem Meeresboden liegt und noch verwertet werden kann. Wenn Sie diese mal anfassen wollen, dann bitte hinter dem Panzer, wie ich zwischen Daumen und Zeigefinger geklemmt. Haben Sie Angst vor Spinnen?‘ der Matrose wendet sich direkt an mich. Ich nicke. ‚Ja.‘ sage ich laut. Dennoch quetsche ich den kleinen Krebs entschlossen zwischen meine Finger und betrachte ihn von allen Seiten. Die Besucher quittieren meine mutige Geste mit Gelächter. Das Krabbeltier hebt in einer typischen Drohgebärde die Klauen. Wie ich ihn halte, ist ihm nicht geheuer. Einen Finger bekäme er mit seinen Scheren nicht durch, im Gegensatz zum Taschenkrebs. Einer der Seeleute streckt die Hand aus, auf der ein winziger Einsiedlerkrebs sitzt. Schnell zieht dieser sich in das Schneckenhaus auf seinem Rücken zurück. Nicht eines der dürren Beinchen ist mehr zu sehen. ‚Die frühere Bewohnerin der Behausung hat er sich schmecken lassen und ist danach dort eingezogen. Wenn man die Hand ganz ruhig hält, kommt der Krebs auch raus und man kann seine giftgrünen Augen sehen.‘ erklärt uns der Seeman, der den Wohnungsräuber hält. ‚Der Einsiedlerkrebs hat ein weiches Hinterteil, das sich dem Schneckengehäuse anpassen kann. Allerdings wächst die Wohnung nicht mit der Krabbe mit. Ist diese zu groß, muss sie sich ein neues Haus suchen und dadurch ein paar mal im Jahr umziehen.‘
Der Krebs verschwindet wieder im Bottich und traut sich schließlich aus seinem Haus. Die Hand des Matrosen fischt erneut im Plastikbecken. ‚Das ist eine Schwertmuschel. Diese ist hier nicht heimisch, sondern Anfang des letzten Jhdts in den Ballaststofftanks der großen Schiffe aus Nordamerika hierhergekommen. Sie fühlt sich hier an den Stränden derart wohl, dass sie sich rasend vermehrt hat. Dasselbe ist mit der Pazifischen Auster passiert, die leider unsere Miesmuschelbestände vernichtet.‘ Endlich wird ein Seestern aus dem länglichen Gefäß geholt. Vorsichtig nehme ich diesen auf den Handrücken und befühle seine Oberfläche. Zart gleiten meine Finger über die kleinen Noppen. Zur Nahrungsaufnahme kriecht der Seestern über den Meeresboden und setzt sich auf Muscheln. Dann drückt dieser so lange zu bis die Muschel erstickt. Verdutzt sehe ich den hübschen Meeresbewohner an. Kaum zu glauben, dass dieser sich so gemein verhält. Einer seiner Verwandten im Fangbehälter hat nur 4 Zacken. Allerdings wachsen die Arme im Normalfall bald wieder nach, wenn diese verloren gehen und es sind schließlich wieder fünf. Der Seemann hält uns den vierarmigen Gesellen unter die Nase. ‚Seesterne kann man konservieren. Wenn man sie auskocht, enthält der Seestern leider Blausäure und wird giftig. Daher muss man nach dem Ausnehmen und Kochen gut aufpassen. Am besten dann Trocknen und mit viel Haarspray einsprühen. Das hat sich sehr bewährt um diesen haltbar zu machen.‘ Ich nehme einen kleinen Plattfisch auf den Handrücken und streichle über die kalten, nassen Schuppen. Mein Partner amüsiert sich über meinen liebevollen Gesichtsausdruck. Er grinst. ‚Willst Du Dir ein Haustier mitnehmen?‘
Äusserst interessante Einblicke hast Du uns wieder gewährt! Danke!
Liebe Grüße,
Werner
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