Über dem Raum liegt ein kontinuierliches, undeutliches Gemurmel. Das abendliche Entertaiment auf den Ostfriesischen Inseln ist recht begrenzt. Der gesamte Saal ist daher voller Menschen. Jeder Stuhl ist besetzt. Alle Urlauber auf Langeoog erwartet heute eine Einsicht in den täglichen Alltag der Mitarbeiter der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS). Ungeduldig rutsche ich auf meinem Stuhl in der ersten Reihe hin und her. Das Holz quietscht laut. Eine Frau schimpft mit ihrem Mann. Er hat irgendetwas in der Ferienwohnung vergessen. Reißverschlüße rascheln. Hinter mir hustet jemand laut. Gelangweilt schnippe ich mit den Fingern. Geräuschvoll putzt sich jemand in den Stuhlreihen hinter mir die Nase. Die junge Dame, die zum Rednerpult tritt, ist sichtbar nervös. Sie arbeitet ehrenamtlich bei den Seenotrettern. Ohne die vielen Helfer könnten die gar nicht existieren. ‚Schön, dass Sie sich für unsere Arbeit interessieren.‘ tönt es zögerlich ins Mikrophon. Seit 6 Jahren lebt die Sprecherin auf Langeoog. Die Insel hat wie alle Ostfriesischen Eilande eine eng verknüpfte Geschichte mit ihrem Verein. Eigentlich kann man sogar sagen, dass die Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger wegen der Katastrophen hier entstanden ist.
Die Mitarbeiterin fährt fort. ‚Es gab früher sehr viele Auswandererschiffe, die auf den Sandbänken damals gestrandet sind. Die Insulaner mussten diese Tragödien hilflos mit ansehen und tatenlos die Hilfeschreie der Ertrinkenden anhören. Natürlich förderte die Bevölkerung aufgrund dieser unschönen Erlebnisse eine Möglichkeit den Menschen in Seenot zu Hilfe zu kommen. So wurde die DGzRS gegründet.‘ Sie zeigt uns das Bild eines großen Seenotkreuzers. Auf Langeoog war bis 2001 die HANNES GLOGNER stationiert. Aus organisatorischen Gründen wurde das Rettungsschiff außer Dienst gestellt. Inzwischen wurde das Boot nach Uruguay verkauft. Dieses Land kauft wohl gerne Rettungskreuzer aus Deutschland auf, die noch gut in Schuss sind. Ich runzle verdutzt die Stirn. Da war ich bereits im Urlaub. Habe ich in dort ein deutsches Schiff gesehen? Innerlich schüttle ich den Kopf. Nein, ich bin mir sicher. Dennoch hebe ich die Hand, als die Frau sich erkundigt, wer schon in Montevideo war. Das Flagschiff der DGzRS erscheint auf der Leinwand. Die 46m lange HERMANN MARWEDE ist ein riesiges Gefährt und auf Helgoland stationiert.
‚Derzeit liegt auf Langeoog die SAGITARIUS.‘ informiert uns die junge Frau. ‚Die Arbeit der DGzRS beläuft sich nicht nur auf Rettungsaktionen. Wir führen auch viele Krankentransporte durch.‘ Ihr Blick wird eindringlich. ‚ Warum sollte Sie unser Wirken interessieren? Vielleicht wohnen Sie ja auf dem Festland fernab von der Nordsee. Ich bitte Sie zu überdenken, dass Sie sobald Sie einen Fuß auf die Fähre nach Langeoog setzen, durchaus einmal die Hilfe unseres Vereins benötigen können. Bei schlechtem Wetter oder auch Nebel kann Sie kein Rettungshubschrauber bergen. Hier springen lediglich die Seenotretter unserer Gesellschaft ein. Auch wenn Sie hier nur Urlaub machen und keinen Bootsführerschein haben lohnt es sich daher uns zu unterstützen. Wir sind komplett spendenfinanziert. Unsere Organisation bezieht keine offentlichen Gelder. Im letzten Jahr ist unser Boot 140 Mal ausgelaufen. Lediglich 40 Fahrten davon waren Übungs- und Ausbildungsfahrten. Unser letzter Fall am Montag half einer Motoryacht im Arkumer Ee, dem Fahrwasser zwischen Baltrum und Langeoog, in Seenot. Algen im Tank verursachten einen Motorschaden. Das Schiff war nicht mehr manovrierfähig.‘ dann fügt sie schmunzelnd hinzu. ‚Vor zwei Tagen sind wir ebenfalls ausgelaufen. Wir hatten einen vorbeiziehenden Kometen für einen Hilferuf mittels Leuchtrakete gehalten.‘
Ein Mann meldet sich. ‚Vor kurzem wurde doch auch ein Surfer in Norddeich gerettet.‘ Die junge Frau winkt ab. ‚Das ist tatsächlich unser täglich Brot. Die tragen leider nie eine Rettungsweste. Kitesurfer sowieso. Es gibt jetzt eine Möglichkeit sich sogar online als Schwimmer anzumelden, damit jemand nach einem sucht, wenn man sich nicht zurück meldet. Oft ist es auch so, dass die Bootsführer mit ihren Funkgeräten gar nicht richtig umgehen können und dies erst in der Not merken. Ohne gute Peilverbindung ist es für uns natürlich schwierig diese dann zu finden. Manche laden sich die Seekarten auch auf ihre Tablets und die drehen sich dann beim Wenden des Geräts mit. Man fährt also permanent in die falsche Richtung und kann auf hoher See auch sehr schlecht aufladen.‘ Ich grinse. Das ist natürlich ungünstig. Die Mitarbeiterin der DGzRS redet weiter. ‚Die erste Seenotrettung fand hier auf Langeoog im 18. Jhd. statt. 2 Schwestern halfen einem holländischen Frachtsegler, der vor der Insel auf grund gelaufen ist. Eine band sich ein Seil um den Bauch, die andere hielt dieses fest. Tatsächlich gelang es den Frauen den Schiffbrüchigen zu helfen.‘ Sie drückt nervös auf dem mitgebrachten Laptop herum. Der Film startet leider nicht. Sie zuckt entschuldigend die Achseln. ‚Ich bin leider kein PC-Fan.‘
Endlich erscheint ein Bild. Das Leben und die Arbeit am Wasser prägen die Menschen an der Küste. In schwierigen Situationen ist man gewohnt füreinander einzustehen. Dieser Zusammenhalt kann wichtig für das Überleben sein. Es folgt der Bericht eines Fischers, der es aufgrund eines Motorschadens vor der Sturmwarnung nicht mehr nach Hause geschafft hat. Er setzt per UKW einen Notruf ab. Der Seenotkreuzer legt sofort ab und nimmt Kurs auf den Havaristen. Bei jedem Wetter ist die DGzRS einsatzbereit und kämpft gegen die Zeit. In Seenotfällen wie diesen müssen sie schnell, sicher und zuverlässig ihr Einsatzziel erreichen können. Mit dem Tochterboot setzen die Rettungsmänner zur Feuerbekämpfung an und nehmen das verunglückte Schiff auf den Schlepphaken. Ansonsten würde das Boot auf die der Insel vorgelagerten Sandbänke treiben. Jetzt wird es wohlbehalten zum nächsten Hafen geschleppt. Eine Selbstverständlichkeit war die Rettung aus Seenot früher allerdings nicht. 1854 ertranken 84 Menschen in der tosenden Nordsee und dies wurde als unabwendbares Schicksal angesehen.
6 Jahre später im September 1860 strandet die Brig Alliance am gefürchteten Borkumriff. Vor den Augen der entsetzten Inselgäste ertranken die Passagiere und die Besatzung bis auf den letzten Mann in der aufgewühlten See. Tief erschüttert von diesem Unglück richtete Adolph Bermpohl einen eindringlichen Appell an die Öffentlichkeit. Es war an der Zeit endlich auch für Deutschlands Küsten Rettungsstationen zu errichten. Der Aufruf fand Gehör. 1861 gründete Georg Breusing den ersten regionalen Verein zur Rettung Schiffbrüchiger. Weitere Verbände folgten. Am 29. Mai 1865 schlossen sich alle Gruppierungen zur DGzRS zusammen. Der Sitz der Gesellschaft wurde nach Bremen verlegt und befindet sich dort bis heute. Über 700 freiwillige und etwa 185 festangestellte Mitarbeiter sind heute im Rettungseinsatz tätig. Alle Notrufe laufen in der Zentrale zusammen und werden dann an die diversen Seenotkreuzer, auch auf internationaler Basis, weitergeleitet. Logischerweise immer an das Schiff, welches der Unglücksstelle am nächsten ist. Insgesamt gibt es 54 Stationen mit Rettungsschiffen.Mehr als 3.000 Km Küstenlinie und über 17.000 qm Wasserfläche werden überwacht.Häufig erleben die Retter dramatische Szenen. Sie fahren bei jedem Wetter, das entscheidet immer der Vormann des Bootes. Mehr als 2.000 Einsätze werden Jahr für Jahr von den Seenotrettern durchgeführt. Oft können die Hilfeleistungen größere Not verhindern, z.B. bei einem Wassereinbruch im Maschinenraum. Ebenso gibt es bei Wattwanderungen auf eigene Faust immer wieder ganze Familien, die gerettet werden müssen. Diese beachten die Gezeitenwechsel nicht und unterschätzen die daraus resultierende Gefahr. Die Mitarbeiter der DGzRS sind manchmal Helfer in letzter Minute. Die Verunglückten haben oft bereits mit ihrem Leben abgeschlossen. Für medizinische Notfälle sind alle Seenotkreuzer mit besonderen Geräten ausgestattet. Im Bordhospital leisten die ausgebildeten Rettungsmänner erste Hilfe. Dazu stehen immer zum Glück modernste Geräte und Instrumente zur Verfügung. Über eine Funkverbindung werden die EKG-Daten des Patieten an ein Krankenhaus auf dem Festland gesendet. Dort erstellt der Facharzt kurzfristig eine erste Diagnose und gibt den Sanitätern wertvolle Behandlungsanweisungen weiter. An Land ist dann für die Ankunft des Kranken bereits gesorgt.
Ich strecke meinen Arm in die Höhe und werde aufgerufen. ‚Im Bericht wurde gezeigt, dass das Deutsche Verkehrsministerium die Seenotretter beauftragt hat Schiffbrüchigen zu helfen. Warum erhalten diese dann keine Gelder von Staat?‘. Die Frau von der DGzRS sieht mich an. ‚Viele Leute fragen das. Bei Behörden müsste man einen schriftlichen Antrag stellen bevor man ausläuft. Bei aktuten Notfällen ist dies für uns sehr schwierig. Das ist typisch für die deutsche Bürokratie. ‚ Die meisten Besucher lachen. Die junge Frau fährt fort. ‚Leider gibt es nicht mehr so viele deutsche Reedereien, die uns früher sehr unterstützt haben. Dies ist eher rückläufig. Aber ich kann Ihnen zumindest sagen, wenn Sie die Hälfte des Wertes eines Rettungskreuzers spenden, dürfen Sie das Boot benennen. Rettungseinsätze kosten die Verunglückten natürlich nichts. Wir rechnen allerdings Krankentransporte natürlich mit den Krankenkassen ab. Davon leben wir inzwischen. Personalverlust gab es zum Glück nicht viel zu beklagen. Seit Gründung der DGzRS sind etwa 85 Seemänner im Einsatz geblieben. In den letzten 50 Jahren haben keinen Mann verloren. Seit Jahren wird leider in der Deutschen Seeschiffahrt nicht mehr ausgebildet. Wir haben dadurch derzeit mit einem immensen Personalmangel zu kämpfen und geben auch Quereinsteigern gerne eine Chance.‘ Sie sieht das Publikum aufmunternd an und startet den nächsten Film.
Die Wellen in der Aufnahme sind sicherlich größer, als ich es bin. Mit einer ungeheuren Wucht peitschen diese an den metallenen Bug des Rettungsschiffs Sagitarius von Langeoog. Schwach erscheint mir das Boot gegen die allgegenwärtige tosende Naturgewalt. Bei den Bildern rutscht mir trockenen Fußes bereits das Herz in die Hose. Nie im Leben würde ich mich nach solchen Arbeitsbedingungen sehnen, geschweige denn mich als Seenotretter bewerben. Die Bilder verheißen unangenehme Nässe und Kälte. Und wenn das Boot kentert verschwindet man in einem riesigen nassen Fass, völlig hilflos. Das wäre einfach keine Position für mich. Für die Rettung auf See und die Arbeit auf dem Schiff muss man wohl gemacht sein. Aber die ehrenamtlichen und bezahlten Mitarbeiter der DGzRS können das und machen das auch. Oft schon über Generationen hinweg. Ich grüble vor mich hin. Muss eigentlich der Seenotkreuzerkapitän auch bis zum Schluss auf dem sinkenden Schiff bleiben? Gilt das auch für Rettungsboote? Und warum trotzen die ehrenamtlichen Mitglieder ständig der Gefahr des aufgewühlten Meeres und dem Kampf gegen die Zeit? Und das ganze ohne staatliche Förderung. Ein dankbarer Händedruck ist laut dem gezeigten Film für die Rettung im Angesicht der Naturgewalt Entschädigung genug. Eigentlich bewunderswert. Ich knülle einen Geldschein aus der Tasche. Ich bin Besucher dieser Insel und bereit etwas zu helfen. Vielleicht bin ich bei meinen vielen Reisen auch irgendwann Schiffbrüchiger. Das wäre eine Geschichte wert. Bei einem Einsatz mit Vollgas werden etwa 1.700 Liter Diesel pro Boot verbraucht. Das muss erstmal finanziert werden. Ohne Spenden gäbe es die Seenotretter garnicht. Für mich unvorstellbar!