‚Passen Sie bitte auf Ihren Kopf auf. Es ist alles etwas eng hier. Am besten Sie gehen gleich rückwärts.‘ Die Frau an der Kasse legt zur Verdeutlichung ihre Hand auf die scharfe Kante oberhalb der Tür. ‚Wenn Sie wollen erzähle ich Ihnen auch ein bisschen was hierzu.‘ Ich nicke erfreut. Vorsichtig steige ich die schmalen Stufen des Seenotretters ‚Georg Breusing‘ hinab, der inzwischen außer Dienst im Hafen von Emden liegt. Die Mitarbeiterin des kleinen Museums zeigt auf die vielen Geräte. ‚Die werden eigentlich alle nicht mehr benötigt. Gelegentlich werden wir noch zu maritimen Festen eingeladen. Einmal im Jahr müssen wir unseren Liegeplatz sowieso verlassen, da dieses Seenotschiff ansonsten ein Denkmal wäre und viel strengere Bestimmungen für uns gelten würden. Dazu reicht es aber auf der anderen Seite des Hafens ein Fischbrötchen zu holen und wieder rüber zu fahren.‘ Sie zeigt mir die Sprechfunkverbindung mit der Einsatzzentrale in Bremen und einen grauen Grenzwellenempfänger. ‚Von 1963 bis 1968 hat dieses Schiff vor Borkum gelegen. 1.672 Menschen wurden in diesem Zeitraum gerettet. Als der Kreuzer ausgemustert werden sollte haben sich ehemalige Kapitäne und Maschinisten dafür eingesetzt, dass die ‚Georg-Breusing‘ hier nach Emden kommt. Ihr Namensgeber hat 1861 den ersten ostfriesischen Seenotverein gegründet und stammte ursprünglich aus unserer Stadt.‘ Stolz schaut die Frau mich an.
‚Wie lief das dann bei einem Notfall ab?‘ frage ich interessiert. Die Erklärung folgt eifrig und prompt. ‚Wenn von der Einsatzzentrale in Bremen ein Problem gemeldet wurde ist dieses Boot zur Unglücksstelle gefahren.‘ Sie deutet hinter sich. ‚Haben Sie an Deck das kleinere Rettungsboot gesehen? Jeder Seenotkreuzer hat eines. Mit einem Hebel kann man die Heckklappe des Schiffes lösen und dieses so zu Wasser lassen. Die zu rettenden Menschen wurden aufgenommen und das zierliche Bergungsschiff mit einer Winde wieder eingeholt.‘ Ich runzle die Stirn. Es geht hier doch im Notfall um wichtige Minuten. ‚Das heißt, alle Seenotrettungsrufe gehen erstmal nach Bremen?‘ frage ich vorsichtig. Die Frau nickt. ‚Genau. Diese werden dann auf die Rettungsschiffe verteilt. Insgesamt gibt es 62 an Nord- und Ostsee. Auf den großen Kreuzern arbeiten festangestellte Mitarbeiter, diese werden für ihre Arbeit bezahlt. Die kleinen Boote werden von ehrenamtlichen Helfern betreut. Oftmals müssen auch verschiedene Nationen zusammenarbeiten.‘ Sie deutet auf eine Uhr an der Wand der kleinen Kajüte. ‚Diese Uhr geht zwei Stunden zeitversetzt. Nach einem Schiffsunglück, an dem mehrere Länder beteiligt waren, einigte man sich auf einheitliche Zeiten an Bord der Seenotkreuzer, nämlich die Greenwich-Zeit, so wie in London. Im Ernstfall kann eine einheitliche Zeit Leben retten.‘
Ich sehe mich in dem niedrigen Raum um. Jeder noch so kleine Platz ist verplant. ‚Wie viele Leute waren hier im Einsatz?‘ Die Mitarbeiterin des Museums fährt bereitwillig fort. ‚Es waren immer 4 Leute. 2 Wochen waren diese an Bord, dann wurden sie von einem anderen Team abgelöst. Vormann, Maschinist, Funker und Sanitäter. Letzterer mit einer 6-jährigen Ausbildung, jeweils 3 Jahre für Rettungsdienst an Land, als auch 3 im Klinikum. Der Sanitäter muss auf See ja mit allen Situationen klarkommen, ob Pflege, Geburten oder OPs. Der Tisch hier ist daher so groß, damit hier zur Not auch eine Operation stattfinden kann. 4 Babys sind auf diesem Schiff geboren, 3 Mädchen und ein Junge.‘ Ungläubig schüttle ich den Kopf. So eine lange Ausbildung. Ich arbeite derzeit in einer Klinik als Sekretärin. Den Pflegeberuf kann man bei uns bereits in einer Ausbildungsdauer von lediglich 12 Monaten erlernen. Die Schränke der kleinen Küche hinter mir sind alle mit einem Haken zu verschließen. Die Seenotretter fahren bei jedem Wetter und alle Gegenstände an Bord müssen daher einige Wetterlagen aushalten. Gebaut ist das Boot wie ein U-Boot. Sollte es kentern, müsste es sich normalerweise von selbst wieder aufrichten. Also eigentlich ein unsinkbares Schiff. Aber das war die Titanic ja auch.
Seitdem ein Kreuzer in Grundsee, also niedrigem Wasserstand, durch eine Welle umgeworfen wurde und der Mast im Schlick stecken geblieben ist, ist dieser mit einer Sollbruchstelle versehen. Die Mannschaft wurde damals von Bord gespült, zwei wurden tot geborgen und einer querschnittsgelähmt. In einem kleinen Fernseher läuft ein Film über einen Seenoteinsatz. Die Wellen um das Rettungsschiff sind meterhoch. Mir ist der normale Windgang hier direkt an der Nordsee schon zu viel. Für mich wäre so ein schwankendes Boot nichts. Ich begleite die Museumsführerin an Deck. Interessiert lausche ich ihren Ausführungen. ‚Früher gab es auf der Georg-Breusing eine Rettungsinsel, diese ist heute nicht mehr vorhanden. Darin war ein Peilsender, der mit Meerwasser aktiviert wird, ebenso wie Entsalzungstabletten um Trinkwasser zu gewinnen, Trockenessen und ein Kartenspiel.‘ Als Schiffbrüchiger auf offener See hat man also zumindest die Möglichkeit sich mittels Rommé die Zeit zu vertreiben. Überall auf dem Deck des Schiffs sind kleine Prismengläser eingebaut. Diese reflektieren so hell wie dreifach gebündeltes Sonnenlicht und sind enorm belastbar. Man bräuchte auf diesem Gefährt eigentlich überhaupt kein Licht. Ich betrachte die zusätzlichen riesigen Scheinwerfer und ausladenden Scheibenwischer der Steuerkabine. Diese müssen extrem belastbar sein aufgrund der möglichen Wellen- und Windkraft.
Leben auf so einem kleinen Raum muss man definitiv mögen. Ebenso wie den rauen Wellengang und den eisigen Wind des Meeres. Wahrscheinlich bin ich dazu nicht Nordlicht oder Seebär genug. Ich wohne ja auch schließlich im Schwarzwald. Bootfahren mag ich wirklich gern. Aber die peitschenden Wellen bis zu Windstärke 11 wären mir zu heftig. ‚Sehen Sie hier den Notanker?‘ fragt die Mitarbeiterin des Museums. Ich mustere das kleine Metallstück. Dieses hat überhaupt keine Kette. Funktioniert der wirklich, denke ich. ‚Sie sehen schon richtig.‘ meint die Emderin. ‚Der würde dieses Schiff niemals halten. Aber deutsche Gesetzte müssen ja schließlich eingehalten werden.‘ Sie zuckt die Schultern. Über dem Wasser ertönen die hellen Klänge des Emdener Glockenspiels am Rathaus. Es ist Mittagszeit und mein Magen knurrt. ‚Wo gibt es denn hier die besten Fischbrötchen?‘ frage ich hungrig. Sie zeigt über das Wasser der Ems auf die gegenüberliegende Seite des Hafens. ‚Sehen Sie da die Bude. Da gibts den besten Fisch überhaupt. Der Fang kommt immer frisch vom Meer und wird direkt verarbeitet. Die sind immer schnell ausverkauft, hoffentlich haben Sie noch Glück.‘ Der kleine Fischstand befindet sich in unmittelbarer Nähe. Während ich den besten Bismarckhering jemals esse, fühle ich mich gleich am richtigen Ort. Ich bin angekommen. Willkommen im hohen Norden.
Wirklich immer wieder unglaublich, was die Seenotretter alles leisten.
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Toller Beitrag, vermittelt das Gefühl, selbst mit an Bord zu sein..
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Dankeschön. 🙂
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Hat dies auf Werners Traumlounge rebloggt und kommentierte:
Einen wirklich sehr lesenswerten Bericht über die DGzRS fand ich hier. Und ich weiß jetzt endlich, wo die Georg Breusing geblieben ist, zusammen mit ihrem Tochterboot Engelke war sie bis 1988 auf der Nordseeinsel Borkum stationiert. 🙂
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