Boppard liegt an diesem Morgen im Tiefschlaf. Die prächtigen Villen entlang der Rheinpromenade erscheinen völlig leer. Vereinzelt sitzen Feriengäste auf den ausladenden Balkonen, die mit Säulen und Blätterranken verziert sind. Der Wind raschelt im Laub der Baumallee entlang des Uferweges. Es ist kühl. Der Himmel liegt in einen undurchdringlichen Grau. Dunkel türmen sich die Wolkengebilde übereinander und lassen den Rhein in völligem Schatten liegen. Gelegentlich fahren einsam ein paar Fahrradfahrer vorbei. Die Tischgruppen direkt am Fluss sind zusammengekettet. Bei diesem Regen verheißenden Wetter macht sich keiner die Mühe die Außenterasse herzurichten. Ich ziehe meine Jacke enger. Trotz der üblen Witterung laufe ich entlang der Herrschaftshäuser zur Sesselliftstation. Nach dem kleinen überschaubaren St. Goar scheint mir das um einiges größere Städtchen Boppard viel touristischer und vielleicht auch etwas versnobt.
Wenig später baumeln meine Füße etliche Meter über dem Boden. Immer kleiner werden die Häuser des Ortes. Es scheint, als schaue ich auf eine Spielzeugstadt. Ich recke meine Nase in den Wind. Unter mir ziehen nah die Weinreben vorbei. Fast kann ich mit den Zehen deren grüne Blätter streifen. Oberhalb des Bügels meines Sessellifts hängt ein Spinnennetz. Zarte, winzige Regentropfen kleben wie leuchtende, filigrane Strasssteine in den Fäden. Der Mann auf dem Sitz vor mir stimmt den Text des Liedes ‚Atemlos‘ von Helene Fischer an. Ich lehne mich gemütlich gegen den metallenen Sitzbügel. So pendele ich langsam über der wunderschönen Szenerie des Mittelrheintals dahin. Grün leuchtet der Fluss unten im Tal. Je höher ich aufsteige, umso eisiger wird die Luft. Frostig reißen windige Böen an meinem Mantel. Zitternd genieße ich den Blick auf die größte aller Rheinschleifen von hier oben. Meine Haare fliegen über mein Gesicht und bäumen sich in alle Richtungen. Genauso geht es den Grashalmen unter mir.
Ein Frachter mit roten Containern schwimmt unter mir vorbei. Auf der gegenüberliegenden Rheinseite fährt ein Güterzug in raschem Tempo. Mein Sitz schwankt nervös im kalten Wind. Ich reibe mit beiden Händen meine Arme. Vorsichtig fasse ich an die Haare auf meinem Kopf. ‚Liegt noch.‘ grinst die Frau, die mir entgegen geflogen kommt und lacht. Meine Frisur ist wirr verknotet und im Chaos. Dann bin ich endlich da. Meine Füsse berühren wieder festen Boden. Am Aussichtspunkt Gedeonseck gibt es ein Ausflugslokal. Ich nehme Platz. Unter mir liegen romantische Bachtäler, die Weinbergslagen der Weinsorte ‚Bopparder Hamm‘, ebenso wie Wälder, Felder und Wiesen. Direkt im Steilhang unterhalb des Panoramas ist ein Klettersteig eingerichtet worden. Der Auf- und Abstieg ist anspruchsvoll und mühsam. Die Gesichter der Wanderer sind angespannt und vor Anstrengung rötlich gefärbt.
Am Tisch neben mir sitzt eine Gruppe befreundeter Rentnerinnen. ‚Ich reise zum Polterabend nach Breisach.‘ meint eine der Omas. Die Freundinnen nicken begeistert. ‚Für drei Tage brauche ich den BH nicht zu wechseln.‘ fährt die alte Dame lautstark fort. ‚Und die Unterhose werde ich einfach bisschen auswaschen. Ich reise also nur mit Handtasche und leichtem Gepäck.‘ sie grinst schelmisch und findet ihren Vorschlag sichtbar einfallsreich. Klingt gut, sind sich auch ihre Mädels einig. ‚Krieg ich noch eine Weinschorle bitte?‘ sie winkt die Bedienung zu sich. Als das Getränk schließlich vor ihr steht wendet sie sich wieder ihrem Stammtisch zu. ‚Statt Tabletten zu nehmen trink ich lieber noch ein Gläschen. Das ist besser, da geht es mir gut.‘ informiert sie jeden der es hören will. ‚Mir bekommt das.‘ sagt sie dann und nippt an ihrem Glas. Recht hat sie, denke ich. Mit dieser Einstellung hat sie schließlich die Rente erreicht. So einfach kann die Welt sein.