Oberwesels Weinhex

Ein kleiner asiatischer Junge schreit sich die Seele aus dem Leib. Er brüllt so sehr, dass ich die kleinen zugekniffenen Augen in seinem Gesicht gar nicht mehr ausmachen kann. Währenddessen drückt er beide Lider fest zusammen und weint herzerweichend während ihm dichte Tränentropfen über die Wangen laufen. Seine zierlichen Hände grabschen aufgrund der verschleierten Sicht ohne Erfolg nach dem geblümten roten Kleid seiner Mutter. Mein Zug hat Verspätung. Ich seufze. Das kindliche Wehklagen zieht sich lautstark und misstönend über den kleinen Bahnhof von St. Goar im schönen Mittelrheintal dahin. Dies nun um quälende Minuten länger bis die Regionalbahn langsam und gemütlich einrollt. Ein älterer Mann lacht mich an. ‚Gebt ihm einfach mal ein gutes Gläschen Wein. Das Kind ist auch nur ein Mensch‘ sagt er auf Englisch und grinst. Die elektrischen Türen der Bahn schließen sich gemächlich und schlucken prompt den unmelodischen Lärm. Ich fahre 5 Minuten den Rhein hinab nach Oberwesel.

Jedes Jahr fragen sich die Bewohner diesen kleinen Ortes wer wohl die neue ‚Weinhex‘ von Wesel wird. Doch dieses Geheimnis wird jedes Jahr streng gehütet, bis am 30. April die neue Zauberin mit magischem Knall und Hexenfeuer dem großen Weinfass auf dem historischen Marktplatz entsteigt. In der Nacht zum 1. Mai wird sie immer der Bevölkerung vorgestellt. Sie ist die Repräsentantin der Weinregion um Oberwesel. Zurückzuführen ist ihr Name auf einen Brauch aus früheren Jahrhunderten, wo auf den Hängen und auf den Weinbergen die ‚Hexenfeuer‘ entzündet und Feuerräder gerollt wurden. Mit ihnen wurden die letzten Winterdämonen ausgetrieben. Daran soll sie erinnern und den Wein der Winzer zu einem edlen Tropfen werden lassen. Daher wird jedes Jahr in der Walpurgisnacht mit einer traditionellen Zeremonie die alte Hexe verabschiedet und die Neue inthronisiert. Sie haust in den Kellern der Winzer und ihren Fässern. Sie verhext die Leute und verzaubert den Wein. Sie nimmt die Menschen in ihren Bann und hebt den Pokal auf deren Trinklust. Alle sollen sich nun ‚rheinische Freude ins Herz‘ trinken. Und derart verhext haben sie womöglich auch keine Wahl. Wehren werden sich die Wenigsten. Die ‚Weinhex’ hat den gleichen Status wie eine Weinkönigin. Sie hält alles Übel sowohl von den Menschen als auch von den Weinreben fern.

sdr

Der Weinmarkt von Oberwesel in seiner heutigen Form entstand erst nach dem
2. Weltkrieg. Vor dem Krieg gab es von 1933 – 1938 das ‚Fest der Weinlese‘. Die Not der Winzer war in den 30er Jahren groß. Wegen der allgemeinen Arbeitslosigkeit brach der Weinhandel zusammen. Um den Absatz zu beleben wurde am 22. Oktober 1933 zum ersten mal in Oberwesel der Winzermarkt gefeiert. Die Nationalsozialisten inszenierten die Veranstaltung als großes Event der Winzergenossenschaften. Die Organisation ‚Kraft durch Freude‘ schaffte mit Sonderzügen aus dem Ruhrgebiet und der Umgebung von Frankfurt und Karlsruhe die Gäste in Massen herbei. Die letzten Marktereignisse vor dem Krieg fanden 1938 und 1939 jeweils an sechs Wochenenden statt. Nach dem Krieg fanden die beiden ersten Weinspektakel 1946 und 1947 wegen der französischen Besatzungstruppen nicht in der Öffentlichkeit sondern im katholischen Jugendheim statt. Der spätere Ehrenbürger Hanns Maria Lux hatte die Idee, die Attraktivität der Veranstaltung zu steigern, indem er die Kunstfigur einer ‚Weinhex‘ für Oberwesel erfand und deren Zauberspruch dichtete.

Die erste Weinhexe hatte 1941 ihren großen Auftritt. In der Zeit direkt nach dem Krieg fehlte allerdings das Geld für einen echten Weinkelch für die Repräsentantin des guten Oberweseler Weins. Mit dem Siegespokal des örtlichen Ruderclubs wusste man sich allerdings zu helfen. Dieser wurde zweckentfremdet und diente der Weinhexe zunächst als Trinkgefäß. 1952 wurde er durch einen schönen Glaspokal ersetzt. Seit 1948 findet der Hexenevent jährlich am zweiten Wochenende im September statt. Ein großes Feuerwerk in der ‚Nacht der 1000 Feuer‘, ein Festumzug und eine Weinprobe gehören zu den Attraktionen der Feier. Nach wie vor engagieren sich jährlich zahlreiche ehrenamtliche Helfer. Es gibt nur genau zwei Weinhexen in Deutschland. In Oberwesel und in Winningen an der Mosel. Der Ursprung vieler Weinfeste liegt im Erntedank. Waren die Trauben gelesen, entlohnten die Winzer ihre Helfer nicht nur mit Geld, sondern bedankten sich auch mit einem Festmahl. Es wurde gefeiert, getrunken, gesungen und getanzt. Man freute sich über die getane Arbeit und dankte damit für den jungen Wein, der als ‚Federweißer‘ im Keller gärte. In Oberwesel feierten vor allem die Stiftsherren und die Klöster mit ihren Pächtern und Weinlesehelfern. Sie waren die größten Weinbergbesitzer. Schön, dass sich dieser Brauch bis heute gehalten hat. Vielleicht lerne ja auch ich die Weinhexe in der nächsten Walpurgisnacht einmal kennen.


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