Der Mann bei dem ich wohne ist Künstler. An allen Wänden der kleinen Wohnung in Koblenz hängen selbst gemalte Bilder und Collagen. Manche zeigen ihn selbst oder seine Freundin. Hinter einigen der selbstgemachten Kunstwerke sind Lichter installiert. Ich würde gern wissen, ob er mit seinen Kreationen Geld verdient. Ein Rollstuhl mit blauem Sitzbezug steht ungenutzt in der Ecke. In der Badewanne befindet sich ein Lift, der den Einstieg und das Absenken erleichtern soll. Mein Gastgeber ist leider nicht zu Hause. Aber ich habe sein Sofa gemietet oder besser gesagt eine Matratze auf einem hölzernen Podest unter dem Fensterbrett. Wenn ich den Rollstuhl betrachte, der einsam an einer Wand steht, beherrscht mich das Gefühl, dass diese Begegnung unheimlich intensiv ist. Obwohl der Besitzer der Unterkunft ja gar nicht vor Ort ist. Warum geht es mir eigentlich so? Wieso habe ich diesen Eindruck? Ich wusste ja aus dem Profil meines Gastgebers, dass er nicht gehen kann.
Im Grunde beschäftigen wir uns eben alle nicht mit Randgruppen. Wenn doch, dann nur selten und ungern. In unserem Denken und unserer Zeit, in der alles völlig makel- und zeitlos sein muss um schön zu sein, ist dafür kein Platz. Wir wollen alle gesund und am besten alterslos sein. Androgyne Models sind schick und im Trend. Ich schäme mich, dass mich derart erschreckt, die Zerbrechlichkeit eines Körpers zu sehen. Der Gedankengang ist unangenehm, weil ich selbst ja schließlich auch nicht unverwundbar bin. Dies möchte ich aber am liebsten verdrängen. Ich weigere mich daran zu denken, wie schmal der Grat zwischen Krankheit und Gesundheit wirklich ist. Ein unbedachter Gang über die Straße oder ein Autofahrer, der einen Fußgänger einfach übersieht, kann ein Leben in Sekundenschnelle verändern. Was sagt die Scheu diese Überlegungen zuzulassen über meinen Charakter aus? Ich bewundere meinen Gastgeber. Er hat keine Berührungsängste jemanden in sein Leben zu lassen und lässt mich hier übernachten. Er ist vermutlich so viel offener als ich. Ich danke ihm still dafür, dass ich das Leben hier aus einer anderen und auch seiner Perspektive betrachten kann. Auf diese individuelle Übernachtungserfahrung freue ich mich.
Auf den Lift in der Badewanne zu stehen traue ich mich nicht. Ich will nichts kaputt machen, weil der Mensch, der hier lebt, dies so notwendig braucht. Vor dem Waschbecken schrubbe ich mich also gründlich ab. Ich denke, wie gut es mir eigentlich geht und wie oft ich aus Ungeduld mit mir selbst diese Tatsache vergesse. Es gibt viele Menschen, die krank sind oder denen es gesundheitlich schlechter geht als mir. Menschen, die dennoch viel mehr zu optimistischer Lebensfreude fähig sind, als ich in ihrer Situation sicher wäre. Heute um 1 Uhr nachts hat mir mein Gastgeber geschrieben, dass wir uns nicht kennenlernen würden, weil er das ganze Wochenende mit seiner Freundin verreist ist. Das spricht für einen abwechslungsreichen Alltag und Unternehmenslust. Zum Haare waschen beschließe ich einfach zum Friseur zu gehen. Das würde mein Problem lösen und heute regnet es sowieso. Meinen Fön hatte ich ja leider auch nicht eingepackt. ‚Sie können schon hier Platz nehmen.‘ dirigiert mich die Friseuse neben eine Rentnerin, die gerade ihre Dauerwelle auf toupiert bekommt. Erneut zuckt die Stylistin die Haarspraydose. Erschreckt ziehe ich den Umhang mit dem Lorealemblem übers Gesicht. Husten muss ich trotzdem. Ich sitze in einer feinen aber dichten Wolke von permanenter Süße. Meine alte Sitznachbarin beugt sich zu mir ‚Ja, das muss ja auch halten.‘ meint sie und zeigt die dritten Zähne. Sofort mischt sich die Angestellte ein ‚Keine Sorge, ihre Frisur sitzt.‘ sagt sie beschwichtigend zu der Oma. Das glaube ich sofort. Zum Selbstschutz halte ich das Cape zunächst weiter dicht an mein Gesicht gepresst.
Meine Gedanken wandern zurück zu meinem Gastgeber. Ich habe seine Unterkunft für zwei Nächte gemietet und bin glücklich über diese Wahl. Als manchmal angespannter Mensch, der viel zu oft in dem eigenen unwichtigen Denken gefangen ist, fühle ich mich emotional und gedanklich absolut geerdet. Das wird ein schönes und spannendes Wochenende werden. Mir fällt ein Flyer der ersten Inklusionsdisko in Koblenz in die Hand. Die Feier ist heute Abend und von der gemieteten Wohnung nur einen kleinen Spaziergang entfernt. Ich werde hingehen, weil ich die Idee toll finde und diese unterstützen möchte. Mit gespannter Vorfreude schlendere ich zur Rhein-Mosel-Halle. Ein Gruppe Jugendlicher kommt vor mir eilig aus der Eingangstür. ‚Da sind ja total viele Behinderte.‘ meint einer fassungslos und schüttelt ungläubig den Kopf. Ich fahre mit dem Fahrstuhl in den zweiten Stock. Es stimmt. Hier sind viele Leute mit Behinderung, einige mit Trisomie 21. An den Tischen stehen Rollstühle mit ihren Insassen. Und das ist auch total in Ordnung. Warum sollen sich nicht auch behinderte Menschen amüsieren? Und warum nicht auch mit Personen ohne Handikap gemeinsam? Wer entscheidet das denn? Und wer darf das überhaupt?
Gerade wird Johnny Cash gespielt. Es sind ja auch alle von 16 bis 99 eingeladen, die teilnehmen möchten. Es ist unglaublich, was die Menschen hier für eine Stimmung verbreiten. Eine pure Freude ohne jegliche Vorurteile oder Wertung. Ein fröhlicher Enthusiasmus, der durch nichts gebremst wird. Eine Heiterkeit ohne etwas zu erwarten, die nur den Moment im Hier und Jetzt genießt. Ich bin mir nicht sicher, wann ich eine solche positive überbordende Energie bei einer Party das letzte Mal gespürt habe. Vielleicht hatte ich diese auch gar nicht erwartet. Das finde ich einfach fruchtbar schade. Begeistert wippe ich mit zur gespielten Melodie. Ich glaube nicht nur, sondern bin mir sicher, dass keiner dieser Tänzer auch nur einen Gedanken daran verschwendet, wie er beim Tanzen wohl aussehen möge. Oder was die anderen Leute gerade über ihn denken. Genauso bewertet hier aber auch keiner die restlichen Gäste oder urteilt über sie. Alle amüsieren sich einfach. Das finde ich toll, auch wenn dies wirklich simpel klingt. Einfach deshalb, weil es mir öfter selbst schwerfällt. Manchmal ist es einfach notwendig über den eigenen Schatten zu springen und seine Komfortzone auszuweiten, um an dieser Erfahrung zu wachsen.