Die Straße wird unangenehm schmal. Der asphaltierte Weg wechselt in ein unebenes Kopfsteinpflaster. In meinem kleinen Auto ruckele ich die enge Gasse hinab. ‚Darf ich hier überhaupt durchfahren?‘ hatte ich vor etwa zwei Minuten den Rezeptionisten der Unterkunft im schönen Bernkastel-Kues gefragt. Er hatte gleichgültig genickt und diese Geste war mir eigentlich genug gewesen. Jetzt rolle ich die zierliche Straße in die Altstadt hinunter. Knapp ziehen Regale mit Weinflaschen und am Hauseingang stehende Blumentöpfe an den Rädern meines Wagens vorbei. Immerhin krümme ich keiner Blume ein Blättchen. Ich hoffe, dass nicht plötzlich jemand aus einer der Türen tritt, die das überschaubare Sträßchen rahmen. Dann stehe ich plötzlich auf dem Marktplatz. Fußgänger springen aufgrund meines abrupten Auftauchens erschreckt zur Seite. Vermutlich ist dies eigentlich ein verkehrsberuhigter Bereich. Aber da es nichts schlimmeres geben kann, als in einer Ministraße mehrere 100m rückwärts zu fahren, bleibt mir nur die Flucht nach vorn.
Völlig unaufgeregt ob meines groben Verkehrsverstoßes und rasanten Fahrmanövers fließt am Rande der Innenstadt die graugrüne Mosel dahin. Und hier kann ich endlich parken. Erleichtert steige ich aus dem Fahrzeug. Das ganze Städtchen liegt in einer wohltuenden und entspannten Geschäftigkeit. Die vielen Touristen stören das beschauliche Stadtbild nicht. Wahrscheinlich ist im Sommer viel mehr los und Bernkastel-Kues platzt aus allen Nähten. In der Vorsaison ist es kaum vorstellbar, dass hier einmal ein Winzeraufstand stattgefunden hat. Sogar die Schreibmaschine flog damals aus dem Fenster des Finanzamts. Der verlorene 1. Weltkrieg mit seinen ökonomischen Folgen wie Inflation und hohe Arbeitslosigkeit traf besonders die Winzer an der Mosel sehr hart. Der Weinhandel lag am Boden und deren Einkommen gingen stark zurück. Dabei blieben die Kosten für den Weinanbau unverändert oder stiegen sogar noch an. Die Reichsregierung wälzte die immensen Auslandsschulden infolge des verlorenen Krieges auf den Rücken der Bevölkerung ab. Besonders verhasst war die Weinsteuer von 20%, die den Moselwein unverkäuflich machte. Zumal billige Weinimporte aus Spanien und Frankreich den Markt zollfrei überschwemmten.
Die Rheinlandbesetzung verschärfte die Situation. Hinzu kam eine galoppierende Inflation, die zwei gute Ernten auffraß. Ebenso brachten die Jahre 1923 und 1925 starke Missernten. Zusätzlich waren die Keller trotzdem noch voll mit dem nicht verkauften 1924er Wein. Das alles machte die Stimmung hochexplosiv. Kredite lasteten auf den Menschen. Die meist kinderreichen Familien litten straken Hunger. Pfändungen waren an der Tagesordnung. Nicht aber etwa Wein, wovon man im Überfluss hatte, sondern die letzte Kuh oder Ziege aus dem Stall. Die Weinpreise rutschten in den Keller. Man blieb auf seinen unverkäuflichen Beständen sitzen. Von den ‚Goldenen Zwanziger Jahren‘ war an der Mosel keine Spur. Die starke Verschuldung stellte eine existenzielle Bedrohung des Winzerstandes dar. Um auf ihre Not aufmerksam zu machen, demonstrierten diese in vielen Städten an der Mosel, auch in Bernkastel-Kues. Zur Protestkundgebung kamen Scharen von Weinbauern aus den moselabwärts gelegenen Ortschaften zu Fuß oder mit dem Schiff. Etwa 2000 Mann formierten sich zu einem Demonstrationszug. Auf mitgebrachten Schildern standen Aufschriften und Forderungen, die auf die missliche Situation der Winzer aufmerksam machen sollten. ‘Kein Feuer, keine Kohle kann brennen so heiß, wie die Not des Winzers trotz allem Schweiß.‘ oder ‚Weinbau unsere Hoffnung. Hunger unser Los.‘.
Ursprünglich sollte dies nur eine Kundgebung eines Zentrumsabgeordneten in Kues sein. Allerdings fanden sich zum Protest über 5000 Weinbauern aus dem gesamten Moselgebiet vor dem Finanzamt in Bernkastel ein. Hier eskalierte die Situation schnell, nachdem die ersten Steine Fenster zersplitterten. Das sechs Mann kleine Polizeiaufgebot wurde regelrecht überrollt. Die Demonstranten brachen die Türen auf und jagten die Finanzbeamten auf die Straße. Aktenbündel flogen hinterher, Bücher, Möbel, Schreibmaschinen, Kleidungsstücke. Alles wurde unter johlendem Beifall angezündet. Eine dicke Rauchwolke stieg gegen Himmel. Dann zog die Demonstration weiter zur Stadtkasse, um die dort gelegene Finanzkasse zu stürmen. Auch hier wurden Akten auf die Straße befördert und zerstreut. Ebenso verfuhr man mit den Unterlagen des Zollamtes in Bernkastel-Kues.
Ein neues Polizeiaufgebot traf ein. Der Staatsanwalt ermittelte. Die ‚Rädelsführer‘ wurden schon am gleichen Abend festgenommen. Daraufhin läuteten in den Dörfern die Glocken aus Protest. Neue Demonstrationen forderten die Freilassung der Inhaftierten. Daraufhin wurden die Festgenommen entlassen und bis zum Ende des gerichtlichen Verfahrens auf freien Fuß gesetzt. So gab es zwar Monate später für 29 bisher unbescholtene Bürger Verurteilungen, die aber später im Gnadenwege alle erlassen wurden. Im Nachgang beschloss der Reichstag den Wegfall der Weinsteuer. Die Kredite und Steuern der Winzer wurden gestundet und die Handelsverträge mit ausländischen Weinexporteuren gekündigt. Mit der Mosel ging es bald wieder bergauf. Hin und wieder lohnt sich eben ein zielgerichteter Protest. Fast 100 Jahre später profitiere ich davon. Schließlich gibt es die vielen Weinkeller an der Mosel heute noch. Und schließlich mache ich ja hier Urlaub um den Weinverkauf in Bernkastel aktiv zu unterstützen.