In strahlendem Weiß leuchtet das schlanke Kreuz inmitten der Weinberge in der Frühlingssonne. Das zierliche Sträßchen, das ich bergan spaziere, heißt passender Weise ‚Kreuzleygasse‘. Über dem kleinen Ort Alken an der Mosel thront die Burg Thurant umringt von Weinreben. Es ist ein warmer, sonniger Maimorgen. Das kleine Dorf liegt verschlafen zu meinen Füßen. Auf der asphaltierten Hauptstraße fährt kaum ein Fahrzeug vorbei. Die Rebengerippe, die den zierlichen Pfad hinauf zu den Burgmauern säumen sind noch völlig blätterlos. Hilfesuchend recken sich die knorrigen Äste in die zarten, hellen Strahlen der warmen Frühlingssonne um alsbald die ersten filigranen, zerbrechlichen Blattknospen zu tragen. Reste der mittelalterlichen Stadtmauer ragen aus den Rebstöcken empor. In der Ferne sitzt eine kleine weiße Kapelle inmitten der Weinbergshügel wackelig auf felsigem Untergrund.
Der erste Löwenzahn sprießt achtsam zwischen den gestutzten Rebenstauden und kündigt bereits jetzt das vorsichtige Herannahen des sommerlichen Grüns und seiner Blumenpracht an. Einsam schwingt eine Europafahne auf einem kleinen Mauervorsprung träge und behäbig im Wind. Der schmale, sandige Pfad durch die Weinberge schlängelt sich steil und rasant bergauf und umrahmt elegant und grazil die Wingertflächen. Der asphaltierte Weg zur Burg endete abrupt und ohne Vorwarnung. Ich kämpfe mich über den steinigen Grund am Rande der Rebenfelder, die den Hauch eines Trampelpfades erahnen lassen. Ich musste ja auch eine Abkürzung nehmen, das kommt davon. Mit den Turnschuhen suche ich in der rutschenden Erde Halt und rudere um Ausgleich bemüht kontinuierlich mit beiden Armen. Gelegentlich tauchen plötzlich ein paar einsame, steinerne Stufen im Anger auf. Ich muss kurz verschnaufen und genieße den wunderbaren Ausblick.
Um 1800 hätte ich von meinem Standpunkt aus die Mosel gar nicht sehen können. Alle Gemäuer der Stadt Alken waren durch eine hohe Stadtbefestigung von jeglichem Blick abgegrenzt. Dadurch war der Blick auf den Fluss stets versperrt. Über winzige Stufen erklimme ich die unbedeutende Treppe hinauf zum Herrschaftshaus. Trotz ihrer Begrenztheit haben die Stiegen einen derart großen Abstand, als wären diese von Riesen angelegt worden. Meine Waden durchfährt bei jedem aufsteigenden Schritt ein schmerzhafter Ruck. Dann stehe ich endlich unterhalb der mittelalterlichen Mauern. Spitz ragen die Dächer der in die Burganlage gedrängten Türmchen in den azurblauen Himmel. Eine Pfälzer Fahne krönt den zentralen Schlossturm. Ein mit dunklem Schiefer bedecktes Plumsklo ziert die Außenfassade. Aufstrebende Glasfenster schmücken einen großen Teil der Anlage. Die Fensterläden sind in schrägem Muster leuchtend Gelb und Rot bestrichen.
Der nun folgende Weg ist wieder asphaltiert und entlastet spürbar die Beine. Von hier oben sehe ich gut die steinerne Brücke, die den kleinen Ort Alken mit seinem Nachbarort Löf verbindet. Am gegenüberliegenden Flussufer ertönt das monotone Rattern der Räder des Regionalexpress, der die einzelnen Moseldörfer verbindet. Diesen zierlichen, vergessenen Fleck allerdings nicht. Alken besitzt keinen Bahnhof. Hier fährt nur unregelmäßig ein Bus. Dennoch macht gerade die Abgeschiedenheit dieses Kleinstädtchen seinen Reiz aus. Für ein erholsames Wochenende ohne Hektik ist dies absolut der richtige Platz. Und bei einem so wunderschönen Frühlingstag möchte ich nirgends anders spazieren als hier. Der aufragende Turm innerhalb der Burganlage sieht aus, als würde Rapunzel jeden Moment ihr Haar herunterlassen. In den überschaubaren Kammern stehen ausgestopfte Elche neben Schirmhaltern aus zusammen genagelten Hirschgeweihen und verstaubten Rüstungen. Vor den alten Teppichen flirren die filigranen, winzigen Staubteilchen in der von der Sonne erhellten Luft und verteilen sich gleichmäßig auf das Interieur.
Im Burgverlies liegt bis heute ein Haufen menschlicher Knochen. Eine mittelalterliche Hebeanlage half den Rittern in ihrer schweren Rüstung damals von Oben auf ihr Pferd. Diese befindet sich natürlich genau neben dem ehemaligen Reitstall. Mein Magen knurrt. Ich trete den Rückweg an. Es ist bereits 20 Uhr als ich das erste Restaurant betrete. Alken hat vermutlich mehr Weinstuben und Wirtshäuser als Einwohner. Ich muss mich beeilen. Warmes Abendessen bieten die ansässigen Restaurants meist nur bis 21 Uhr. Wenn man später kommt, ist die Infrastruktur hier leider eher schlecht. Ich laufe von Gasthaus zu Gasthaus und werde mindestens 5 Mal abgewiesen. Wein gibt es immer noch im Überfluss, aber nichts zu Essen. Mürrisch und ratlos blicke ich mich um. Hunger ist für mich einfach äußerst schwer zu ertragen. Dies ist eines der Gefühle, die mich innerhalb kürzester Zeit sehr unleidig machen können. Die Aussicht ohne eine Mahlzeit ins Bett zu müssen kann mich dabei in wirklich tiefe Verzweiflung stürzen. So laufe ich die kleine Moselpromenade hinauf und frage bei jedem Wirt nach. Beim letzten Haus am Ufer werde ich fündig. Die Küche zeigt sich gnädig, ich bekomme noch ein warmes Gericht. Ich atme erleichtert auf. Glück gehabt.