Sollte ich jemals Schriftstellerin werden wollen, würde ich mich als Turmschreiberin in Deidesheim an der Pfälzer Weinstraße melden. Das Thema kann der Schreibende dabei selbst wählen. Er wird vom Vorstand der Stiftung zur Förderung der Literatur in der Pfalz unter bekannten Autoren ausgewählt. 4 Wochen erhält er freien Aufenthalt in Deidesheim um seine Geschichte zu verfassen. Zeit genug um sich über die Stadt, die Pfalz, den örtlichen Menschenschlag und den hier angebauten Wein zu informieren. Dazu erhält der Texter täglich zwei Liter Wein. In der Regel ist es ein Riesling. Deidesheim ist ja nicht arm an Wein. Für das Buch, das aus seinen Eindrücken während des Aufenthalts entsteht, erhält der Turmschreiber ein paar tausend Euro und kann es im Verlag seiner Wahl veröffentlichen. Alle Schriftsteller residieren – zumindest symbolisch – in einem runden Türmchen aus solidem Pfälzer Buntsandstein. Dieses steht im Herzen des Städtchens – im Schlossgarten. So entstanden besondere Texte mit Namen ‚Wenn der Wein niedersitzt schwimmen die Worte empor‘ oder ‚Die Weingeister und ihre Gefährten‘.
Die deutsche Sprache umfasst etwa 200 Eigenschaftswörter, die bei der Weinansprache verwendet werden. Für die Bezeichnung der verschiedenen Eigenschaften des Weins, wie Süße, Säure, Alkoholgehalt, Alter usw. stellt die Standardsprache nur wenige Ausdrücke bereit. Süß, sauer, alkoholhaltig, jung, alt sind einige davon. Für eine genaue Kennzeichnung reichen diese Begriffe aber nicht aus. Bewährt hat sich eine Wertung, die der Schrift ‚20 Jahre deutsches Weinsiegel‘ entnommen ist. Nach weiblichen Tugenden: lieblich, zart, mild, weich, füllig, feurig, mollig, rund, massig, vornehm und elegant. Ebenso nach männlichen Tugenden: stahlig, nervig, kernig, kräftig, mächtig und wuchtig. Dies und viele weitere Informationen rund um den Wein kann man im ‚Museum für Weinkultur‘ in Deidesheim erfahren. Der Begriff ‚Weinkultur‘ ist vielschichtig. Er bedeutet einmal den planmäßigen Anbau und die Ernte der Trauben, ebenso wie die Erzeugung des Weines. Zudem bezieht er sich aber auch auf alle Bereiche des menschlichen Lebens, ob Religion, Kunst, Medizin, Wirtschaft oder Politik.
Die Begründer des Weinbaus waren oftmals gottgleiche Herrscher. In Indien die Fruchtbarkeitsgöttin Schiwa, in China der kulturschaffende Weise Fu-Hu, in Ägypten der Gott Osiris, bei den Griechen Dionysos und bei den Römern Bacchus. Je intensiver sich ein Mensch mit Wein beschäftigte, desto ausgeprägter und herrlicher gestaltete sich die Würdigung und Verherrlichung des Rebensaftes in Dichtung, Malerei und Musik. Von Anbeginn seiner Geschichte war dieser ein vorzügliches Heilmittel. Auch heute noch sind die gesundheitsfördernden Wirkungen des maßvollen Weingenusses bekannt. Im Keller des Museums befinden sich alte Weinfässer und zahlreiche verschiedene Weingläser und –flaschen. Hinter einer Glasscheibe lässt sich ein mehr als 400 Jahre alter Wein aus Slowenien begutachten. In einer gläsernen Karaffe liegt die Flasche kopfüber da. Daneben steht ein echter 108 Jahre alter Rebstock. In den Regalen stehen Weinkrüge, Gebrauchsgeschirr und Weingläser aus dem 14., 15. und 16. Jhd.
Etwa 1400 v. Chr. Entdeckte man in einer Keilschrift das Wort wiyanas. Bei Homer findet sich die Vokabel woinos. Aus dem lateinischen Ausdruck vinos für Wein entstanden die modernen Worte vin (französisch), vino (italienisch und spanisch) sowie vinho (portugiesisch). Ebenso ist wine (englisch) und die deutsche Bezeichnung ‚Wein‘ aus dem Lateinischen Begriff abgeleitet. Wein ist in allen Kulturen und Ländern beliebt. Mal mehr, mal weniger. In Deidesheim eher mehr, wie ein gerahmtes Sprüchlein an der Wand beweist: ‚Morgens ein Gläschen, des Mittags zwei und Abends vergisst man das zählen dabei!‘ An der schönen Deutschen Weinstraße übernachten pro Jahr etwa rund 4 Millionen Gäste. 85 Km verläuft die gesamte Route durch Deutschlands größtes zusammenhängendes Weinbaugebiet. Mehr als 100 Millionen Rebstöcke stehen hier und tragen die Trauben von mehr als 5 Dutzend verschiedener Rebsorten. Rund 1500 Weingüter und zwei Dutzend Winzergenossenschaften erzeugen im Anbaugebiet der Pfalz etwa 2,3 Millionen Hektoliter Wein pro Jahr. Jede 4. Flasche des deutschen Weines kommt von hier. ‚Für Sorgen sorgt das liebe Leben und Sorgenbrecher sind die Reben‘ spiegelt ein anderer gerahmter Spruch das Lebensgefühl der Region wieder.
Bereits Sokrates wusste: ‚Mit dem Trinken ihr Leute bin ich ganz einverstanden. Denn der Wein frischt in Wahrheit die Seele an, schläfert die Sorgen ein und weckt dagegen die Fröhlichkeit, wie das Öl die Flamme‘. Platon verbietet Kindern vor dem 18. Lebensjahr überhaupt Wein zu trinken. Ebenso untersagt er jedermann sich vor dem 40. Lebensjahr zu besaufen. Erst wenn die Leute über 40 sind findet er denn übermäßigen Alkoholgenuss empfehlenswert. Im alten Rom war es nach dem Gesetz des Romulus den Frauen verboten Wein zu trinken. Diese konnten dafür mit dem Tod bestraft werden. Sie erhielten ein Gemisch aus Myrrhe und Honig als Ersatz für den Weinverzicht. Nach Cato durfte der Römer vor allem deswegen seine weibliche Verwandtschaft küssen um deren Enthaltsamkeit vom Wein zu kontrollieren. Ab dem 16. Jhd. wurde Deutschland gelegentlich in Bier und Weinländer eingeteilt. Als Biertrinker galten vor allem Sachsen, Brandenburg und Mecklenburg. Während die Schwaben, Franken, Bayern und die Rheinische Bevölkerung in Weinländern lebten.
Als Trank der Götter war der Wein seit alters her geheimnisvoll, zauberhaft und dämonisch. Von jeher wurde er von Ärzten als Heilmittel verordnet. Man schätze seine gesundheitsfördernde, heilkräftige Wirkung und lobte seinen entspannenden und lebensbejahenden Einfluss. So wusste schon Platon 400 v. Chr. ‚Mäßig genossen ist der Wein eine Arznei, die das Alter verjüngt, den Kranken gesund macht und den Armen reich‘. Den Bewohnern von Mesopotamien war schon vor 5.000 Jahren der Wein als Lösungsmittel von Heilkräutern und zum Anrühren von Salben bekannt. Auf den Feldzügen der persischen, griechischen und römischen Armee wurde den Soldaten in großen Mengen Wein verabreicht, um diese vor Typhus, Ruhr und Cholera zu schützten. Da Wasser oft aus unhygienischen Quellen geschöpft werden musste, befahl z. B. auch Caesar seinen Soldaten täglich einen Liter Wein zu trinken.
Auch im Mittelalter nutzen die Seefahrer die Vorteile des Rebensaftes. Die Vorräte an frischem Obst und Gemüse waren bald auf den Segelschiffen der mittelalterlichen Händler erschöpft. Vitaminmangel war die Folge. Seeleute aus weinbautreibenden Ländern wie Spanien, Italien und Portugal nahmen deshalb große Mengen Wein mit auf ihre Schiffe. Diese Gewohnheit wurde bald auch von den ‚Nordländern‘ übernommen. Die spanische Armada hatte mitunter doppelt so viel Wein an Bord wie Wasser. Wein schützt vor Infektionskrankheiten der Verdauungsorgane. Die Erfahrungen der Soldaten und Kaufleute ließen auch die Pilger und Scholaren des Mittelalters zum Weinkrug greifen. Erfahrungen, die der Tourist unserer Zeit auch in südlichen Ländern erleben kann. Immer mehr erinnert man sich heute wieder an die hygienische und diätetische Wirkung des Weines.
Wein spielte in den Klöstern des Mittelalters eine große Rolle. Die Mönche sorgten selbst für Anbau und Verbreitung der Rebe. Sie benötigten den Rebensaft für die Gabenbereitung beim Messopfer. In allen Kulturkreisen sind Trankopfer nachzuweisen, bei denen vornehmlich Wein gespendet oder getrunken wird. Das Opfer galt dabei früher den Ahnen, Schutzgeistern oder den Göttern. Heute kennen wir solche Opfer aus der Eucharistiefeier. Klöster waren im Mittelalter auch Pflegestätte für Kranke und Alte. Wein galt als Trostspender und Heiltrank. Er sollte dem Trinkenden Gesundheit bringen. Der Trinkspruch Prosit ist vom lateinischen prodesse (nützen) abgeleitet. Das Opfer möge Nutzen, Erfolg haben. Hildegard von Bingen schreibt in Ihrem Werk über Krankheitsursachen und Heilverfahren, dass Wein bei Magenbeschwerden helfe und die Lunge kräftigen würde. Heilkräuter sollen daher immer mit diesem und Brot gegessen werden. Ebenso sollte der Rebensaft bei Appetitlosigkeit und bei Fieber helfen. In den Spitälern und Hospizen wurde reichlich Wein gereicht. Täglich ein halber Liter, an Festtagen sogar ein ganzer für die Gebrechlichen. Für die Bediensteten galt der edle Tropfen auch als Lohn.
Allerdings ging über Jahrzehnte hinweg der modernen Schulmedizin das Bewusstsein für die therapeutische Wirkung des angemessenen Weingenusses verloren. Andererseits enthalten eine ganze Reihe frei verkäuflicher Arzneien Alkohol wie etwa Melissengeist. Hier wird die entspannende Wirkung für Leib und Seele genutzt. Psychopharmaka mit oft fatalen Nebenwirkungen haben meist den wohl dosierten Weingenuss verdrängt. Die gesundheitsfördernde Wirkung des Weins ist nicht immer auf den Alkohol zu beziehen. Der Rebensaft enthält über hundert verschiedene Inhaltsstoffe, Vitamine, Zucker, Säuren, Farbstoffe und Enzyme. Wein ist deshalb nicht gleich Wein. Man muss die charakteristischen Eigenschaften und Bestandteile der Weine eines Weinanbaugebiets kennen und danach die therapeutische Anwendung vornehmen. Ich betrachte interessiert ein Schaubild, dass die geeigneten Weinsorten der jeweiligen Krankheit zuordnet. Diese Veranschaulichung ist eine gute Idee. Ich überfliege die Texte und überlege, welche Weine ich für die eigene Gesundheit verwenden kann.
Bei Erkältungskrankheiten helfen junge Müller-Thurgau Weine vom Kaiserstuhl. Diese haben einen günstigen Vitamin C und Eisengehalt. Die empfohlene Dosis bei Schnupfen beträgt 2/4 Liter zwischen den Mahlzeiten, gerne auch als Glühwein getrunken. Gegen Übergewicht helfen trockene Silvaner und Gutedel mit Diabetikersiegel. Sie sind reich an Kalzium und regen den Stoffwechsel an. Am besten trinkt man davon 0,7 Liter pro Tag zu kalorienarmen Mahlzeiten. Gegen Schlaflosigkeit helfen halbtrockene Spätburgunder. 2/4 bis 1 Liter nach dem Abendessen wirkt beruhigend und fördert den Schlaf. Kein Wunder, dass es aufgrund dieses besonderen Getränks seit 1954 den ‚Deutschen Weinkulturpreis‘ gibt. Auf Anregung einer großen Gruppe weinverbundener Künstler und Schriftsteller wurde dieser zur Anerkennung außerordentlicher Dienste weinkulturellen Schaffens gestiftet. Die weinbautreibenden Bundesländer hatten diese Maßnahme unter Führung des damaligen Weinbauministers lebhaft unterstützt.
Der Deutsche Weinkulturpreis wird für die beispielhafte und unmittelbare Gestaltung von Kunstwerken aller Art verliehen, die geeignet sind, den deutschen Wein als Kulturgut und Quelle von Gesundheit und Freude zu preisen. Ebenso wird der Preis für die schlichte Präsentation und Interpretation weinkultureller Kunstwerke an einen möglichst breiten Interessenkreis verliehen. Bekannte Preisträger sind unter anderem der Schauspieler Günther Strack (1991) und der frühere Bundeskanzler Helmut Kohl (1988). Ein Kulturpreiskomitee unterbreitet dem Aufsichtsrat und der Geschäftsführung des Deutschen Weininstituts jedes Jahr Vorschläge für den zu vergebenden Preis. Das kleine Museum der Weinkultur in Deidesheim finanziert sich ebenfalls über das edle Getränk. Vor Jahren wurden 200 Reben im ‚Paradies-Wingert‘ gepflanzt und an Prominente aus Politik, Wissenschaft und Kunst verpachtet. Zum Dank erhalten die Rebstockbesitzer Wein aus Ihrem eigenen rebenstock. Nachdem ich nun erfahren habe wie gesundheitsfördernd Wein eigentlich ist, muss ich das erlernte nun gleich anwenden. Wein braucht man in Deidesheim zum Glück nicht zu suchen. Winzer gibt es hier im Überfluss. Ich verlasse das Museum und sitze kurz darauf vor einem Glas voll zartgelber Medizin. Auf meine Gesundheit. Prost!