Man sieht, dass die Anwohner von Steinau an der Straße in Hessen mächtig stolz auf ihr märchenhaftes Erbe sind. In jeder Gartennische tummelt sich ein Zwerg oder eine andere Märchenfigur. Ein Haus ist völlig mit Märchenbildern bemalt und übersät. Die schicken Fachwerkhäuser mit den bunten Balken liegen in der völligen Ruhe dieses Samstagnachmittags. Die hölzernen, zierlichen Streben reichen in die Höhe bis zum spitzen Giebeldach. Ich atme die wohltuende Gemütlichkeit der schmalen Kopfsteingassen tief ein. Hektik oder Eile gibt es in diesem schmucken, überschaubaren Ort nicht. Ein zauberhaftes Schloss, mit mächtigen Mauern aus leuchtend gelbem Sandstein, schmiegt sich an der Platz der gegenüber liegenden Straßenseite. Elemente verschiedener Epochen fügen sich sanft zu einem harmonischen Ganzen. Elegant und grazil schlängelt sich die Kinzig an den Resten der mittelalterlichen Stadtmauer entlang. Ihr Quell springt in der Nähe aus einem mit Märchen verzierten Brunnen.
‚Brüder-Grimm-Haus‘ verrät das verschnörkelte Schild oberhalb der Tür des Museums. Die Pforte des reichen Fachwerkbaus ist aus schwerem Massivholz und mit dunkelbrauner Farbe bestrichen. Vögel zwitschern fröhlich im spärlichen Laub des Baumes im Garten. Aus den dürftigen Grashalmen des Rasens ragen die Mützen der sieben Zwerge. Neben dem Eingang sitzt ein dicker Frosch aus Metall, der fest einen runden, goldenen Ball umklammert. Davor spitzt die Königstochter in endloser Geduld bereits die Lippen zum Froschkuss. Ich eile die steinernen Stufen zum Museum hinauf. In diesem Haus lebten die Märchenschreiber und Brüder Jakob und Wilhelm Grimm in ihrer Kindheit. Beide gehören zu den bedeutendsten Persönlichkeiten der deutschen Kulturgeschichte. Sie haben mit ihrer Sammlung der Kinder- und Hausmärchen Weltruhm erlangt.
Die Familie Grimm zog 1791 von Hanau nach Steinau, weil der Vater hierher versetzt worden war. Philipp Wilhelm Grimm war Hofgerichtsadvokat. Kern der Arbeit des Amtmannes waren Durchsetzung und Überwachung von Gesetzen, sowie staatlichen Vorschriften und der öffentlichen Ordnung. Darüber hinaus versah er notarielle Aufgaben. Er besiegelte Verträge und Testamente. Nicht nur in den Texten seiner Söhne wird gelobt wie beliebt und geachtet Philipp Grimm als Amtmann war. Seinem gewissenhaften Naturell gelang es offenbar die Ansprüche der Herrschaft mit den Bedürfnissen der Land- und Kleinstadtbewohner zu verbinden. In Steinau begann für die Familie zunächst ein Leben in geregelten Bahnen. Der Vater war in seiner Tätigkeit die höchste staatliche Autorität der Umgebung. Die glückliche Zeit in Steinau endete für die Familie 1796 abrupt mit seinem plötzlichen Tod. Er starb mit 44 Jahren an einer Lungenentzündung. Die Mutter musste mit den Kindern die Wohnung räumen. Für einige Zeit fanden alle Unterschlupf im Armenhaus der Stadt. Schließlich konnte die Witwe ein neues Haus für ihre Lieben erwerben.
Sowohl Wilhelm als auch Jacob Grimm verließen zwei Jahre später die Stadt. Sie wollten in Kassel ihre schulische Ausbildung vervollständigen. Nach dem Gymnasiumsbesuch dort ging Jacob im Jahre 1802, sowie Wilhelm 1803 zum Studium der Rechte an die hessische Landesuniversität nach Marburg. Brider Jacob legte das Juristische Examen nicht ab und erhielt dennoch eine Stelle als Sekretär beim Hessischen Kriegskollegium in Kassel. Wilhelm Grimm hingegen bestand die Prüfung. Beide beginnen mit Studien zur altdeutschen Sprache und einer Märchen- und Sagenforschung. 1811 veröffentlichen sie die ersten eigenständigen Publikationen. 1812 erscheint der erste Band der Kinder- und Hausmärchen, 1814 bereits der zweite. 1819 erhalten beide Grimm-Brüder die Eherendoktorwürde der Universität von Marburg. Ebenso erscheint zu diesem Zeitpunkt die zweite Auflage ihres Märchenbuchs. 1823 erscheint die erste englische Ausgabe von Grimms Märchen in London. 1857 erscheint die siebte und letzte von Wilhelm Grimm selbst bearbeitete Auflage der Kindermärchen. 2 Jahre später stirbt er an den Folgen eines Karbunkels in Berlin. 1863 wird auch sein Bruder Jacob nach zwei Schlaganfällen in Berlin neben ihm beigesetzt.
Bereits zu Lebzeiten wurden die Gebrüder Grimm als Märchensammler und Sprachforscher europaweit geschätzt. Bis heute sind ihre gesammelten Geschichten weltweit in über 160 Sprachen und Dialekte übersetzt und millionenfach gedruckt worden. Nur die deutsche Bibelausgabe von Martin Luther kann sich in Auflage mit ihnen messen. Jacob und Wilhelm Grimm waren auch politisch aktiv. 1837 schlossen sich beide Brüder den ‚Göttinger 7‘ an. Die Gruppe von Professoren protestierte gegen die Aufhebung der 1833 eingeführten liberalen Verfassung im Königreich Hannover. Nachdem Ernst August I. den Thron dort bestiegen hatte, hob er die freiheitliche Verfassung und damit das vier Jahre zuvor in Kraft getretene Staatsgrundgesetz wieder auf. Dieses ‚Grundgesetz‘ hatte sowohl dem Bürgertum als auch dem Bauernstand den Zugang zur Zweiten Kammer der Ständeversammlung eröffnet und damit mehr politisches Mitbestimmungsrecht gewährleistet. Darüber hinaus wurde eine beschränkte Minister-Verantwortung eingeführt. Ebenso wurde die Generalsteuerkasse mit der bisher dahin unabhängigen Königlichen Generalkasse zu einer einheitlichen Steuerkasse zusammengeführt. Für ihren Protest gegen die Aufhebung wurden die Brüder des Landes verwiesen. Spätestens durch diese Aktion wurden die Gesichtszüge der beiden in populärer Weise vervielfältigt.
Jacob Grimm hatte alle seine Arbeiten in ein großes sprachwissenschaftliches Werk aufgenommen. Diese Erkenntnisse präsentierte er erstmals theoretisch als auch praktisch zusammengefasst. Man kann ihn also definitiv als Begründer der modernen Sprachwissenschaft in Europa sehen. In der umfangreichen Bibliothek ihres Marburger Lehrers entdeckten die Brüder Grimm während ihrer Studienjahre mittelhochdeutsche Dichtungen, die ‚Sammlung von Minnesängern aus dem schwäbischen Zeitpuncte‘. Die Begegnungen mit dieser Edition können als die Geburtsstunde der modernen Germanistik betrachtet werden. Jacob und Wilhelm beschäftigten sich nach ihrer Entdeckung weniger mit dem Studium der Rechte, dafür vielmehr mit altdeutscher Literatur und Sprache. Beide haben nicht nur als Märchensammler Erfolg erlangt. Sie haben auch als Wissenschaftler zahlreiche Impulse gesetzt. Dabei stellen die germanischen Sprachen und Literaturen den entscheidenden Dreh- und Angelpunkt ihrer Forschungen dar. Die Grimms haben dadurch nicht nur die heutige Literaturwissenschaft begründet, sondern auch die moderne Philologie geprägt.
Ich bin mit den Märchen der Brüder Grimm aufgewachsen. Dies ist ein essentieller und wichtiger Teil meiner Kindheit. Ich hatte tatsächlich noch Langspielplatten und Kassetten voller märchenhafter Geschichten. Diese konnte ich stundenlang anhören ohne Pause. Seit Beginn des 18. Jhds. wurden erstmals in Paris die orientalischen Märchen von 1001 Nacht in französischer Sprache herausgegeben und lösten damit eine riesige Märchenbegeisterung in Europa aus. Man führte die märchenhaften Geschichten sogar als Oper auf. Ich weiß noch vage, wie meine Eltern mich in die Oper ‚Hänsel und Gretel‘ von Engelbert Humperdick entführten. Die gesungenen Passagen und das lange Stillsitzen waren für mich in meiner Kindheit eine Qual. Meine Abneigung gegen die meisten Opern hat sich bis heute erhalten. Dennoch hat auch diese Interpretation der Märchengeschichten in unserer Kultur ihre Berechtigung. Bei der Uraufführung 1893 wurde Humperdicks Oper übrigens ein immenser Erfolg. Dem Komponisten brachte dies Ruhm und finanzielle Unabhängigkeit. Mir brachten die lehrreichen Geschichten auch 100 Jahre später eine märchenhafte Abwechslung während der Kindheit. Ich denke heute gerne an diese Zeit zurück. Und der Großteil der Gesellschaft tut dies auch. Deshalb sind die Hausmärchen der Büder Grimm das populärste Kinderbuch weltweit. Für die meisten Menschen womöglich sogar das erste Literaturerlebnis überhaupt.