Heute bin ich als rotes Blutkörperchen unterwegs. Ich transportiere Sauerstoffbläschen durch ein menschliches Herz. Auf dem Weg hindurch ist es ziemlich rutschig. Ich ziehe also in der ‚Akademie für Kinder‘ in Fulda die Rutschsocken so gut es geht über meine dafür viel zu großen Füße. Denn wie der Name schon verrät ist in diesem Museum alles auf Kindermaße ausgelegt. Ich quetsche meine erwachsenen Zehen in den schmalen Strumpf und die gestrickte Ferse klebt mir jetzt irgendwo am Fußballen. Das begehbare Herz in diesem Museum ist aus Plastik und hat eine gelbliche Tür aus Muskelfasern. Ich steige auf die gelben Treppenstufen der geöffneten Pforte und schiebe mich mit dem Po voran in die rechte Herzkammer. Ein Kardiologe gibt mir per Audioguide Erklärungen, wo ich mich in diesem Moment befinde. Das Herz ist unser wichtigstes Organ. Es versorgt den ganzen Körper mit Sauerstoff. Ich rutsche auf dem Hosenboden voran. Die Oberfläche der Herzkammer ist ziemlich rau. Das Modell in dem ich gerade sitze ist ein 100 Mal vergrößertes Herz. Vermutlich das einzige in Europa oder sogar der ganzen Welt. Unser Herz pumpt 4.000 – 7.000 Liter Blut pro Tag durch unseren Körper. Das entspricht bei einem 9-jährigen Kind bereits 46 voll gefüllten Badewannen. Dabei hat unser Herz niemals Urlaub oder Pause. Gepumpt wird immer. Eine anstrengende Arbeit!
Über mir verlaufen zwei bläuliche Röhren auf der rechten Herzkammerseite. Das Blut wird durch diese Venen in die Herzvorkammer geleitet. Daraus strömt es dann in den Herzraum, in dem ich mich jetzt befinde. Direkt vor mir liegt die Herzspitze. Das Herz ist nämlich oben breiter und läuft nach unten in einer abgerundeten Spitze aus. Direkt neben mir verlauft die Hauptschlagader, die Aorta. Die etwas geschlängelten roten Rohre vor der Herzkammer, in die ich mich gequetscht habe, sind die Arterien. Wenn diese beim Menschen verstopfen, kann man einen Herzinfarkt bekommen. Ich stelle mir vor, ich wäre ein rotes Blutkörperchen. Ich habe meinen Sauerstoff bereits im Körper und bin jetzt auf dem Rückweg zur Lunge. ich muss ja schließlich neuen Sauerstoff aufnehmen. Immer wieder diesselbe Arbeit! Ohne Sauerstoff leuchte ich derzeit etwas blau. Ich blicke auf meine Hände. Auch die Adern auf dem Handrücken schimmern in diesem Farbton. Deshalb, weil das Blut ohne Sauerstoff aus den Händen zurück zum Herz fließt. An den Innenwänden sind rote Lichter angebracht, die kontinuierlich aufblitzen. Dadurch habe ich das Gefühl, dass sich das umgebende Herz richtig zusammenzieht. Es pulsiert wie bei einem wirklichen Herzschlag. Es wird enger und wieder weiter. Ich bin mitten im Blut und völlig davon umgeben. Es fließt um mich herum und trägt mich als Blutkörperchen durch den gesamten Körper.
Die Segel an der Seite der Herzkammer sind die Herzklappen. Sie sorgen dafür, dass das Blut immer nur vorwärts fließen kann. Die rosaroten Wände der Herzkammer bestehen fast nur aus Muskeln. Unter meinen Fingern wirken die Seiten seltsam glatt und einzelne Stränge heben sich hervor. Wenn sich diese zusammenziehen wird die Kammer natürlich kleiner. Der Druck presst dann Millionen von roten Blutkörperchen in die Schlagader und weiter in die Lungenflügel. Links von mir verläuft die Lungenschlagader. Blut erreicht bei jedem Herzschlag mindestens 50 Km/h. Manchmal sogar 300 Km/h wie bei der Formel 1. Wenn die Blutkörperchen langsamer werden schließt sich die Herzklappe wieder. Das Blut darf nämlich niemals zurückfließen, immer nur voran. Ein Zurückfließen in die Kammer wird so immer verhindert. Wer draußen ist, muss draußen bleiben. Ich schiebe die Hände in die Ausbuchtungen der Herzkammer und klettere nach oben. Ich folge einfach der Lungenarterie und schiebe mich über den ruppigen Untergrund nach vorn. Die kompakte Ader verzweigt sich immer weiter bis zur Lunge. Ihre kleinsten Verästelungen nennt man Kapillare. Ich als Blutkörperchen rutsche hindurch und nehme aus unserem Atmungsorgan neuen Sauerstoff auf. Durch das eisenhaltige Hämoglobin kann ich Blutkörperchen den Sauerstoff binden und festhalten. Das ist nämlich der Farbstoff, der das Blut rot macht.
Den Sauerstoff erhält der Körper aus der Luft. Durch Atmen füllen sich die Lungenflügel. Die Kapillaren treffen dann mit den Lungenbläschen zusammen und übernehmen den Sauerstoff. Ich sitze vor einer Metallstange, die in die Tiefe führt. Ich bin jetzt voller Sauerstoff und muss jetzt über die Lungenvene aus der Lunge raus und schnell in die linke Herzkammer rutschen. Klar, der Sauerstoff muss ja im ganzen Körper verteilt werden. Die Organe warten ja schon. Den Blutkreislauf haben übrigens zwei berühmte Forscher ganz unabhängig voneinander entdeckt. Um 1230 beschrieb Ibn al-Nafis, Arzt und Chirurg in Kairo, zum ersten Mal den so genannten ‚kleinen Blutkreislauf‘. Das Blut tritt aus der rechten Herzkammer kommend in die Lungen und fließt zur linken Kammer zurück – ohne die Herzscheidewand zu durchqueren. Ebenso erklärt der Spanier Miguel Serveto 300 Jahre später im Jahr 1553 den Lungenkreislauf. Für seine Idee wurde dieser damals auf dem Scheiterhaufen als Ketzer verbrannt. Seine Idee war zu revolutionär und unreligiös.
Ich lege beide Hände um die Metallstange und rutsche völlig unsportlich etwa 2 Meter nach unten in die linke Herzkammer. Der Druck hier ist viel höher als in der rechten. Das Pulsieren kommt mir viel intensiver vor. Schließlich muss das Blut mit dem Sauerstoff im gesamten Körper verteilt werden. Ist der Druck zu hoch erkranken wir Menschen an Bluthochdruck. Ich fühle meinen Puls am Hals. Dieser ist gleichmäßig und wiederkehrend. Woher weiß das Herz eigentlich, dass es Pumpen muss? Zellen im Herzinneren geben ein elektrisches Signal. Und wenn Gefahr droht schickt das Gehirn einen extra Hinweis zum schneller Pumpen. Zum Beispiel wenn man ganz schnell Weglaufen muss. Herzklopfen hat ja schließlich jeder schon einmal gespürt. Rechte und linke Herzkammer sind zwar zusammengebaut, aber durch eine Membran getrennt. Ich klettere in die Aorta. Jetzt muss gleich der Ausgang kommen. Ich schiebe den Kopf ins Freie. Beim Rauskriechen haue ich mir am Ausgang der angedeuteten Aorta den unteren Rücken an. Ich ächze auf. Meine Hand stützt meine Hinterseite. Für diesen Job bin ich zu alt. Das Herzmodell ist nun einmal für Kinder gemacht. Und normalerweise würde ich als Blutkörperchen jetzt nicht durch die Schlagader rausklettern. Ich müsste jetzt meinen Sauerstoff erstmal im Muskel oder im Gehirn abliefern. Monoton und deutlich ertönt im Hintergund immer noch der Herzschlag. Ich halte mir den schmerzenden Rücken wie eine alte Frau. Es gibt definitiv schlechtere Jobs als meinen im Büro.