Treppenstufe um Treppenstufe führt mich vorbei an winzigen Hauseingängen und zierlichen Portalen. Gemütliche Studentenkneipen säumen mit individuellem Ambiente die verwinkelten Fachwerkgassen mit buntem Gebälk. Fantasievolle bunte Muster schmücken die kunstvoll bemalten Häuserfronten in kreativen Verzierungen. Marburg in Hessen ist eine Stadt aus dem Märchen. Ich schlendere durch die schmalen Kopfsteinpfade den Berg hinauf, an den sich elegant und grazil die wunderschöne Kulisse dieses Ortes schmiegt. Die schwebenden Konstruktionen der Häuser schwingen völlig haltlos durcheinander. So erscheint es derzeit meinem Auge. Eigentlich können die Gebäude so gar nicht halten. Der Architekt war definitiv ein Chaot. Das wird mir in diesem Moment völlig klar. Die Stabilität des Gesamtgebildes lässt mich rätselnd und ratlos zurück. Das ist völlig unlogisch. Und dennoch macht genau diese leise Unruhe den Reiz des Stadtbildes aus. Der strikte und steile Weg bergan beinhaltet weit mehr Treppenstufen als vermutlich innerhalb der Häuser Marburgs zu finden sind. Ich passiere ein Haus, das man zum Dach betritt. Unschlüssig schüttele ich den Kopf. Ich bin in einem Wunderland.
Die Pflastersteine der Straßen sind uneben und gesprungen. Vor 200 jahren müssen hier noch hölzerne Karren entlang gepoltert sein. Ich kann die damalige Atmosphäre fast schon bildlich wahrnehmen und den regelmäßigen Hufschlag der Pferde in den Straßen förmlich hören. Die heimelige Stimmung wird verstärkt durch viele verschnörkelte Metalltore, die den Blick auf verwilderte, mystische Gärten freigeben. Einzelne Spaziergänger bevölkern die schmalen, beschaulichen Gassen zwischen den zierlichen Häusergiebeln. Eine willkommene Ruhe und entschleunigende Entspannheit strahlen die Ortszüge dieser Studentenstadt aus. Der Ton der Glocke des Landgrafenschlosses zerreißt lautstark und hell die Mittagsidylle. Der Klang ist stark und kraftvoll. Er gefällt mir. Die kleine Ausstellung über Emil-von-Behring befindet sich in einem kleinen Raum in der Nähe der Universität. Der berühmte Impferfinder und Nobelpreisträger hat seine Forschungen in Marburg durchgeführt. Sein Vater war ein Dorfschullehrer. Emil war das erste Kind aus zweiter Ehe und hatte bald noch weitere acht Geschwister. Behring machte sein Abitur 1874 in Hohenstein in Ostpreußen. Der begabte, aber mittellose Schüler wurde vor allem durch den örtlichen Pfarrer gefördert. Sein Weg als Student der Theologie schien dadurch bereits vorgezeichnet. Kurzfristig ergab sich allerdings die Möglichkeit eines Medizinstudiums in Berlin, das ihm ein befreundeter Militärarzt vermittelte.
Behrings Einkünfte reichten in den ersten Jahren als Militärarzt nicht aus um über die Gründung einer Familie nachzudenken. Erst 1896, als er ein geregeltes Einkommen vorweisen konnte, heiratete er die 22 Jahre jüngere Else Spinola und unternahm mit ihr eine fast 4 Monate dauernde Hochzeitsreise nach Capri. Seine Gemahlin war gerade 20 Jahre alt und die Tochter des Verwaltungsdirektors der Berliner Charite, Bernhard Spinola. Der Einstieg in die Universitätslaufbahn wurde Emil durch den Ministerialdirektor im preußischen Kultusministrium Friedrich Althoff ermöglicht. Dieser wollte durch die Förderung der bakteriologischen Forschung die Seuchenbekämpfung in Preußen ausbauen. Nach einer kurzen Episode als Professor an der Universität Halle/Wittenberg übernahm Behring mit Wirkung zum 1. April 1895 auf direkte Anordnung seines Gönners die Vertretung des Lehrstuhls für Hygiene an der Marburger Universität. Der Forscher gliederte das Institut in zwei Abteilungen. Eine für experimentelle Therapie und eine Unterrichtssektion für Hygiene und Bakteriologie. Kurz darauf erfolgte eine Ernennung zum ordentlichen Professor. Dies geschah gegen den Willen der Fakultät. Diese wünschte sich trotz aller Verdienste Emils einen Hochschullehrer, der das Fach in seiner gesamten Breite vertreten konnte. Althoff verwarf jedoch alle Gegenvorschläge.
Als Assistent am Kochschen Institut für Infektionskrankheiten nahm Behring seine Studien zur Entwicklung von Heilseren auf. Zusammen mit seinem Freund Erich Wernicke gelang es ihm 1890 die ersten wirksamen Impfstoffe gegen Diphtherie zu entwickeln. Ebenso widmete er sich gemeinsam mit seinem japanischen Kollegen Shibasaburo Kitasato dem Wundstarrkrampf. Die Forscher immunisierten Ratten, Meerschweinchen und Kaninchen mit abgeschwächten Erregern. Das Serum dieser Tiere wurde Artgenossen injiziert, die vorher mit der jeweiligen Krankheit infiziert worden waren. Die geimpften Tiere konnten geheilt werden. Mit der Blutserumtherapie hatte Behring erstmals die passive Immunisierung zur Bekämpfung von Infektionskrankheiten genutzt. Die von den Bakterien abgesonderten toxischen Substanzen konnten durch Gegengifte unschädlich gemacht werden. Diese stammten aus dem Blut von tierischen Lebewesen, die einen abgeschwächten Virus in sich trugen.
Nachdem Robert Koch 1893 mit seiner Tuberkulintherapie gescheitert war, begann Behring seinerseits nach einem wirksamen Heilmittel zu suchen. Er musste jedoch bald einsehen, dass die Bekämpfung der Krankheit mittels eines Serums vorerst nicht zu erreichen war. Daraufhin beschäftigte er sich mit einer vorbeugenden Schutzimpfung. Dies setze eine genaue Kenntnis des Infektionsvorgangs voraus. Nach Emils Ansicht wurde die Tuberkulose im Säuglingsalter durch die Milch von kranken Müttern oder Rindern übertragen. Der Forscher suchte nun nach einem schonenden Konservierungsverfahren für Milch, um diesen Erkrankungsweg auszuschließen. Das von ihm entwickelte Verfahren konnte sich allerdings nicht durchsetzen. Zudem erwies sich die Übertragung der Tuberkelbazillen über die Atemwege als wahrscheinlicher als über den Verdauungstrakt. Seit 1903 beschäftigte sich von Behring mit der aktiven Immunisierung durch abgeschwächte Tuberkuloseerreger, was er mit mäßigem Erfolg an Vieh ausprobierte. Sein Ziel war nach wie vor ein Schutz- und Heilmittel für den Menschen. Eine Reihe von Präparaten ( Tuberkulase, Tulase, Tulaseaktin, Tulon) führten nicht zum gewünschten Durchbruch. Mit Beginn des 1. Weltkrieges beendete der Arzt die Arbeiten zur Tuberkulosebekämpfung um sich ganz der Weiterentwicklung des Tetanusserums zu widmen.
Ebenso entwicklete er ein Heilserum gegen Diphtherie. Dieses gewährleistete die Vorbeugung der Erkrankung allerdings nur für einen kurzen Zeitraum. 1901 nutze Behring daher erstmals in ihrer Virulenz abgeschwächte Diphtherieerreger. Er hoffte mit Hilfe dieser aktiven Immunisierung den Körper zur Bildung von arteigenen Antikörpern (Antitoxin) zu zwingen. Der Forscher glaubte an die langjährige Schutzwirkung dieser Stoffe. Heute weiß man, dass eine aktive Impfung vor allem die antikörperbildenden Zellen zur vollen Funktionsreife anregt. Die Entwicklung eines geeigneten Stoffes nahm einige Jahre in Anspruch. 1913 trat Behring mit seinem Diphtherieschutzmittel an die Öffentlichkeit. Dieses Toxin sollte den Körper zu einer leichten Allgemeinreaktion veranlassen ohne den Impfempfänger zu schädigen. Es sollte dadurch zu einem lang anhaltenden Schutz vor der Krankheit führen. Das neue Präparat wurde an verschiedenen Kliniken getestet und für unschädlich und wirksam befunden. Die erste erfolgreiche Behandlung eines diphtheriekranken Kindes mit dem Heilserum wurde bereits 1891 durchgeführt. Bis dahin starben in Deutschland an dieser Krankheit jährlich mehr als 50.000 Kinder.
Der umfassende Erfolg der Therapie blieb in den ersten Jahren aus. Die Impfstoffe waren nicht genügend hoch dosiert. Mit seinem Kollegen Paul Ehrlich entwickelte Behring neue Anreicherungsmethoden sowie Mess- und Prüfverfahren, die eine genaue Bestimmung des Seruminhalts ermöglichten. Diese führten letztlich zum Durchbruch. Die beiden Forscher richteten ein Laboratorium unter dem Berliner Stadtbahnbogen ein. Mit Hilfe größerer Versuchtiere, erst Schafe und später Pferde, konnten sie Seren in großen Mengen gewinnen. Initiiert durch seinen Gönner Friedrich Althoff stand Behring ab 1892 mit den Farbwerken in Höchst in Verbindung. Diese Firma hatte die therapeutische Bedeutung des Diphtherieserums erkannt. Ab 1894 begann das Unternehmen mit der Produktion und dem Vertrieb des Impfstoffs. Neben positiven Reaktionen gab es zunächst auch Kritik. Die Widerstände wurden jedoch durch die Erfolge der Therapie bald aus dem Weg geräumt.
Das Tetanusserum konnte 1891 wesentlich schneller in die Praxis eingeführt werden. Das Landwirtschaftsministerium unterstützte die Forschungsarbeiten um ein Heilmittel gegen den Wundstarrkrampf von landschaftlich wertvollen Tieren zu erhalten. Die nötigen Serummengen wurden durch die Immunisierung von Pferden gewonnen. Es war jedoch kein klinischer Ansatz am Menschen in größerem Umfang erfolgt. Die deutsche Heeresleitung brachte dem Impfstoff zu beginn des 1. Weltkriegs daher wenig Akzeptanz entgegen. In den ersten Kriegsmonaten führte diese Zurückhaltung zu großen Todesziffern unter den Soldaten. Auch nach Verteilung des Tetanusantitoxins in den Feldlazaretten kam es zu vielen vergeblichen Therapieversuchen. Nach eingehender Beratung durch Behring wurde Ende 1914 die vorbeugende Serumeinspritzung eingeführt. Ab April 1915 waren Versorgungsengpässe und Dosierungsfehler überwunden und die Krankenzahlen fielen dramatisch. Emil wurde als ‚Retter der deutschen Soldaten‘ das eiserne Kreuz verliehen.
Der Forscher war ein Familienmensch, wenn auch ein Patriarch. Im Kreise seiner Lieben fühlte er sich wohl, obwohl ihm seine wissenschaftliche Tätigkeit nicht viel Zeit für Frau und Kinder gelassen haben dürfte. Für Forschung, Tierhaltung und Serumproduktion kaufte er vor allem im Bereich Marbach zahlreiche Grundstücke. Er wurde einer der größten Landbesitzer der Region und gründete 1904 das Behringpharmaziewerk. Der Hygieniker engagierte sich kommunalpolitisch für die Versorgung mit sauberem Trinkwasser in der Stadt. Ebenso brachte er sich seit 1896 in der Kommunalpolitik ein und blieb dieser bis zu seinem Lebensende 1917 treu. Behring engagierte sich kommunalpolitisch für die Versorgung mit sauberem Trinkwasser in Marburg. Er erhielt dafür von der Stadt 1914 die Ehrenbürgerurkunde. Emils bedeutendste Auszeichnung erhielt er jedoch im Jahre 1901. Für sein überragendes Forschungswerk wurde ihm der Nobelpreis für Medizin vom Schwedischen Königshaus verliehen. Diesen erhielt er für seine Arbeit betreffend der Serumtherapie und besonders deren Anwendung gegen Diphtherie. Da der Preis in diesem Jahr zum allerersten Mal vergeben wurde, war die damalige Wahrnehmung nicht vergleichbar mit der heutigen Reputation. Die Preissumme allerdings war schon damals bemerkenswert. Behring erhielt 150.800 schwedische Kronen. Dies würde heute etwa 1.131.000 Euro entsprechen. Das Geld verwendete er ausnahmslos für weitere Forschungen und den Ausbau der Serumgewinnung.
In der Marburger Presse machte die Auszeichnung keine großen Schlagzeilen. Dennoch war Emil von Behring vom früheren armen, mittellosen Militärarzt zum Millionär geworden. Laut Steuerbescheid belief sich sein Jahreseinkommen auf 150.000 Mark. Hinzu kam ein Grundvermögen von etwa 670.000 Mark. Eine Mark entsprach etwa 7,50 Euro. Allein sein jährliches Universitätsgehalt waren bereits 12.000 Mark. Von den Farbwerken Höchst erhielt er bei der Serumproduktion eine beträchtliche Gewinnbeteiligung. Dazu kam der Gewinn der Behringwerke durch die pharmazeutische Produktion. Man konnte den Mediziner also auf jeden Fall als reich bezeichnen. Ich habe durchaus Respekt davor, was dieser Mann geschaffen und aufgebaut hat. Umso tragischer scheint es mir, dass all das verdiente und eingenommene Geld ihn kaum glücklich gemacht hat. 1907 – 1910 ließ er sich im Sanatorium in München wegen einer schweren Depression behandeln. die ihm wohl bereits schwer ins Gesicht gezeichnet war. Der rastlos arbeitende Forscher litt nämlich unter quälenden Schlafstörungen. Für seine letzten zehn Lebensjahre ist belegt, dass er morphiumabhängig war. Er war kein einfacher Mensch. Zugleich sehr intelligent und kreativ, aber auch mißtrauisch und verschlossen. Dennoch ist die Bezeichnung als Retter der Kinder im Kampf gegen Diphtherie nicht übertrieben. Wir haben ihm viel zu verdanken!