Die Berge im Allgäu rund um das kleine Städtchen Füssen sind herrlich verschneit. Die felsigen Spitzen leuchten in strahlendem Elfenbein und die Umgebung ist mit einem feinen, zarten Puderzuckerhauch überzogen. Auf dem gegenüberliegenden Bergkamm inmitten dieser Landschaft voller Zuckerguss thront das Märchenschloss Neuschwanstein. Heute bleiben dessen Tore geschlossen. Lediglich Palast Hohenschwangau, in dem die Eltern König Ludwigs II. wohnten und der Monarch seine Kindheit verbracht hat, ist geöffnet. Ist stapfe vorsichtig über die vereisten Straßen. Wenig touristischer Andrang versperrt den rutschigen, gefrorenen Weg, der sich zum Herrenhaus hinauf windet. Ich ergattere ohne Mühe eine Karte für eine Führung in deutscher Sprache. Der Komplex ist nur mit einer geführten Gruppe zu besuchen. In dunklem Azurblau wogt sanft der Alpsee unterhalb der Burganlage. Die Gerippe der Bäume auf den Hängen liegen in einem leichten Hellgrau. Trist und fade erhellen die Strahlen der Morgensonne den winterlichen, frostigen Himmel. Regelmäßig fährt der gemächliche, kalte Hauch des eisigen Windes durch die Szenerie. Die kühle Brise kämpft sich bis in meine Handschuhe. Meine Finger sind starr vor Kälte. Ich hauche meinen heißen Atem zwischen die ledernen Fäustlinge.
Die winterliche Luft des Allgäus überzieht den Stoff meiner Jacke mit filigranem Rauhreif. Ich stülpe den Kragen gegen die klirrenden Eiskristalle hinauf. Sanft segeln die zarten Schneeflocken auf mich nieder. Mit einem letzten Schauern schmilzen diese widerstandslos auf der warmen Haut meiner Wangen. Neblige Wolkenfetzen bedecken teilweise das Himmelszelt. Ich schiebe mich durch das metallene Drehkreuz die Treppe zur Palastpforte hinauf. Schloss Hohenschwangau wurde im 12. Jhd. zum ersten Mal urkundlich erwähnt. Bis 1535 war es im Besitz der Ritter von Schwangau. Während der napoleonischen Kriege wurde es bis auf die Grundmauern zerstört. 1832 erwarb Kronprinz Maximilian die restlichen Mauern der Ruine und ließ die Anlage wieder aufbauen. 1842 heiratete der König Prinzessin Marie von Preußen und machte sie zur Königin von Bayern. Der Monarchin wurden zwei Kinder geschenkt, Ludwig und Otto. Die königliche Familie nutze die Anlage als Sommer- und Jagdresidenz sowie als Feriendomizil. Nach dem Tode Maximilians bewohnte dessen Sohn, der Märchenkönig Ludwig II. mit seiner Mutter das Schloss. Die Königsfamilie pflanzte sich kontinuierlich weiter fort bis 1912. Zu diesem Zeitpunkt starb der letzte Erbe Luitpold von Bayern. Ein Jahr später wurde der ehemalige Herrscherswohnsitz als Museum freigegeben.
Unsere Führung beginnt vor dem Speisesaal. Im gesamten Komplex ist es Besuchern leider nicht gestattet Fotos zu machen. Das königliche Esszimmer lebt durch die Gemälde aus der Sage von Lohengrin. Alle Bilder innerhalb des Schlosses sind zwischen 1835 und 1838 entstanden. Sie wurden noch im Originalzustand direkt auf den darunter liegenden Putz gemalt. Lohengrin ist mir aus dem Bereich der klassischen Musik ein Begriff. ‚Aus der gleichnamigen Oper von Richard Wagner stammt der Hochzeitsmarsch. Sie kennen diesen sicherlich ‚ informiert uns unser Schlossführer. ‚Ich habe diesen auch einmal in der Kirche gehört, als ich meine Frau geheiratet habe. Es muss bei einem Mal bleiben, eine weitere Hcohzeit wäre viel zu teuer. So viel Geld verdiene ich nicht. Ich bin zwar beim bayrischen Königshaus angestellt, aber völlig unterbezahlt.‘ fügte der Mann mittleren Alters schmunzelnd hinzu. Prinz Maximilian hatte von den vorherigen Besitzern, den Rittern vom Schwanenorden das gleichnamige Wappentier übernommen. Der Schwan ziert daher jedes Zimmer der Monarchengemächer. Über den gesamten Palast ist das Emblem des Vogels verteilt. Max hatte sich auch an den neugotischen Stil der Vorbesitzer beim Wiederaufbau gehalten.
Unsere Gruppe kommt im Schlafzimmer von Königin Marie an. Durch eine Reise in die Türkei 1833 sammelte deren Gatte etliche orientalische Eindrücke. Das Gemach seiner Frau ist daher völlig morgenländisch inspiriert und gestaltet. Im Schreib- und Lesezimmer schmücken Bilder der Legende Karls des Großen die Wände. Auf einem Gemälde ist die Wiege des Kaisers in einer Reismühle bei Gauting zu sehen. Der Sage nach beauftragte der Frankenkönig Pippin seinen Hofmarschall, die ihm versprochene Grafentochter Bertha nach Freising zur Hochzeit zu begleiten. Der hinterlistige Hofmeister setzte das Mädchen jedoch im Wald aus. Als Braut führte er dem König seine eigene Tochter vor. Bertha irrte ziellos im Forst umher und fand Zuflucht in einer Reismühle. Jahre später verirrte sich Pippin bei einer Jagd im gleichen Wald. Er gelangte zum Haus des Müllers. Dort erkannte er seine frühere Braut, da sie immer noch seinen Ring trug. In der ersten Nacht soll dann Karl der Große gezeugt worden sein. Seine angebliche Wiege ist wohl noch heute in der Mühle zu sehen. Wir verlassen den unteren Bereich des Schlosses. Hölzern knarren die Stufen der Treppen auf dem Weg ins Obergeschoss. Hier liegen die ehemaligen Gemächer des Königs.
Der Festsaal des Palastes, auch Heldensaal genannt, ist der größte Raum des Stockwerks. Dieses Zimmer nimmt die ganze Breite des Schlosses ein. Die Wandgemälde zeigen Szenen aus der Geschichte Dietrich von Berns. Die meisten Bilder zeigen Episoden aus dem Leben des berühmten Heroen. Bereits als junger Mann besteht dieser Abenteuer, die ihn als Kämpfer berühmt machen. Das wichtigste hiervon ist zweifellos der Kampf mit dem Riesen Grim, den er nach einem schweren Zweikampf besiegt. Erneut fällt mir Maximilians Vorliebe für Sagen und Geschichten auf. Da die Malereien in der Zeit der Romantik entstanden sind, wurden die Kriegsszenen verschönert dargestellt. Ich sehe weder Wunden noch einen einzigen spritzenden Tropfen Blut. Alle Helden sind an einem Herzinfarkt auf dem Schlachtfeld verstorben. Der Rest ist einfach vor Angst erstarrt. Der König von Bayern vererbt seinem Sohn Ludwig II seine Vorliebe für die romantische Welt der Legenden und Träume. Mit 18 Jahren im Jahre 1864 wird Ludwig II. nach seinem plötzlichen Tode völlig unvorbereitet zum König gekrönt. Bei den Trauerfeiern für seinen Vater am 14. März sah man den neuen Monarchen erstmals in der Öffentlichkeit. Mit seinen 1,93 m war dieser, zumal für die damalige Zeit, außerordentlich großgewachsen.
Der neue Herrscher lässt seine märchenhafte Residenz Neuschwanstein von Hohenschwangau aus aufbauen. Der Bau beginnt ab 1864 und soll die idealisierte Vorstellung einer Ritterburg werden. Ludwig versucht die romantischen Tagträume, denen er sich gern und widerstandslos hingibt, in einem Herrschaftsbau zu realisieren.Wir betreten das Schlafzimmer von König Maximilian, in dem später auch Ludwig II. residierte. Der verträumte Märchenkönig hatte die Decke des Schlafzimmers mit der Illusion eines Nachthimmels übermalt. Durch Kristallstäbe, die in der durchbohrten Zimmerdecke angebracht wurden, hatte er das Gefühl unter dem nackten Sternenfirmament zu nächtigen. Die romantische Gesinnung Ludwigs II. ist allgegenwärtig und begleitet mich durch jedes Gemach. Dass diese Neigung teilweise eine genetische Mitgift ist wird mir nun völlig bewusst. Ein geheimer Gang verband bereits das Schlafzimmer von Maximilian von Bayern zu jeder Zeit mit dem Gemach seiner Frau. Im Lesezimmer der zweiten Etage schmücken Bilder über das Königsgeschlecht der Wittelsbacher die Wände. Sogar die Gründung Münchens durch Heinrich den Löwen 1158 ist dargestellt.
Ludwigs Mutter, Königin Marie, wohnte noch bis zu ihrem Tode 1889 im Schloss Hohenschwangau. König Maximilian war neben seiner Schwärmerei für Geschichte ein Förderer von Wissenschaft und Kunst. Für die technischen Neuerungen seiner Zeit war er absolut aufgeschlossen und leicht zu begeistern. Es gab in Hohenschwangau sogar einen Aufzug, der die Insassen vom Erdgeschoss in den ersten Stock beförderte. Für seinen verträumten Sohn Ludwig war er leider zu rational denkend. Träumerei kollidierte im Verhältnis der beiden mit vernünftigem Realismus. Dies erschwerte das Vater-Sohn Verhältnis überaus. Und dennoch macht die Familie der Wittelsbacher und der bayrische Bundesstaat heute immens viel Geld mit den Träumereien unseres Märchenkönigs. Zu seiner Zeit von der Welt entrückt und für nicht mündig erklärt ist er heute eine gefeierte romantische Gestalt seiner Zeit. Ich bin ebenfalls ein Fan!