Manche Menschen fürchten sich vor der Stille. Sie haben Angst vor der absoluten Tonlosigkeit. Lärm und Hektik in ihrer Umgebung sind ihnen beliebte Echos, die ihren Tag begleiten. Ruhe verheißt für sie kein wohltuendes Ankommen in sich selbst. Sie erschrecken vor der Geräuschlosigkeit. Sie meiden die Gedanken, die sich dann in ihren Kopf schleichen. Über sich selbst und die eigene Situation nachzudenken macht sie nervös. Zeit mit sich selbst zu verbringen müssen wir oft erst einmal lernen. Ebenso wie Entspannung zu schätzen, zu ertragen und auf wohltuende Weise in den Alltag einzubinden. Wir leben alle in einer Atmosphäre der Rastlosigkeit. Kleine Fluchten in die Erholung und um bei uns selbst anzukommen sollten automatisch in den Tagesablauf eingeplant werden. Dieses ‚im hier und jetzt sein‘ ergibt sich nicht einfach. Vielmehr müssen wir uns dieses Vorhaben selbst organisieren und umsetzen. Seitdem ich weiß, welch unheimlich wohltuende Wirkung diese kleinen Zeitpausen mitbringen, nehme ich mir daher täglich ein paar Minuten um bei mir selbst anzugelangen.
Ich setze mich auf die hölzerne Besucherbank der Kirche St. Michael in Schwäbisch Hall. Ich bin nicht religiös. Und wenn, wäre ich wahrscheinlich Buddhistin. Dennoch verströmen die meisten Gotteshäuser eine angenehme Stille, die ich gerne für mein Wohlbefinden nutze. Die graubraunen Mauern wölben sich imposant zu hohen Torbögen nach oben. Außer mir ist die Kirche völlig leer. Der Gottesdienst ist längst vorbei. Ich lege meine Hände in den Schoß und lausche in die Lautlosigkeit. Wohltuende Ruhe. Gewollte Einsamkeit. Gefühlte Isolation. Ich sitze stumm da. Das Schweigen um mich ist angenehm. Völlige Tonlosigkeit, die nicht ein leiser Laut durchschneidet. Einfach mal nichts denken. Gänzlich abschalten. Eine Sache der Übung, die mir am Anfang sehr schwer gefallen ist. Immer wieder hatten sich störende Empfindungen und Erinnerungen in meine Gedanken geschlichen. Inzwischen versuche ich diese durchaus wahrzunehmen, aber nicht auf sie einzugehen. Gedachtes einfach ziehen lassen. Ohne Beachtung und darüber Nachsinnen. Natürlich strengt es mich immer noch unheimlich an nicht bewusst zu Denken. Und doch wird der Zustand mit jedem Mal besser auszuhalten.
Ich stehe auf und ziehe die Tür zur kleinen Kapelle zu. Meine Schritte hallen monoton in den hohen Gängen der Kirche. Ebenfalls ein Geräusch, das Einsamkeit verspricht. Ich trete in das verzierte Portal der gotischen Kirche. Etliche Treppenstufen führen hinunter zum Marktplatz und der historischen Altstadt. Aus der Nähe überblickt die Steinskulptur des Erzengels Michaels als Hüter der Gerechtigkeit das lebendige Treiben der Marktgäste auf dem zentralen Platz der Altstadt. Die von mir tief empfundene Ruhe macht bei dem Anblick des geschäftigen Treibens einer willkommenen Lebendigkeit Platz. Die 53 Treppenstufen sind eingerahmt von wunderschönen Fachwerkhäusern. Daneben stehen mit Rennaissance- und Barockelementen verzierte Stadtvillen. Am Fusse der Treppe stehen bereits die Sitzplätze für die Besucher der Freilichtspiele, die in Schwäbisch Hall jedes Jahr stattfinden. Über die Fenster des Rathauses gegenüber schmiegen sich hellbraune in Stein gemeißelte Girlanden. Der spitze Turm überragt bei weitem die übrigen Gebäude.
Ich genieße die alltägliche Lebhaftigkeit dieses Ortes. Um Stille, Einsamkeit und Isolation zu schätzen muss man auch die Lebendigkeit und Vitalität auskosten können und an diesen Gefallen finden. Ohne Kraft und Impulsivität gäbe es ja schließlich auch die Regeneration und Ruhe nicht. Wer an Zeit mit sich selbst gefallen findet, kann auch die mit der richtigen Gesellschaft als angenehm empfinden. Weiß man um den Wert gemeinsamer Stunden verbringt man diese ja auch nur mit Menschen, die man wertschätzt oder mag. Schließlich hat man nur ein begrenztes Jahreskontingent davon. Die Lebenszeit bleibt niemals stehen und lässt sich nicht zurück drehen. Deshalb muss man sich auch so gut überlegen wie man diese durchlebt. Das muss nicht immer in Stille sein. Aber zumindest versuche ich im ‚Hier und Jetzt‘ zu bleiben. Mal gelingt es, dann ist es wieder für den Moment undenkbar. Ich setze meinen Fuß auf die erste Treppenstufe. Gleich umgibt mich die Hektik der munteren Marktschreier und interessierten Käufer. Die Szene strotzt von temperamentvoller Neugierde und kraftvoller Aktivität. Es muss nicht immer Ruhe sein. Aber man muss diese auch als angenehm empfinden.