Die Holzverschläge der Weihnachtsbüdchen auf dem Marktplatz von Landsberg am Lech sind noch fest verschlossen. Sanft kitzelt die Morgensonne die Bretter wie in einem zärtlichen Weckruf. Der Himmel ist von einem strahlenden Azurblau, das von einzelnen weißen Wolkenfetzen durchzogen wird. Es ist noch früh am Tag. Der Adventsmarkt hat daher nicht geöffnet. Kalte Windböen pfeifen gleichmäßig durch die zierlichen Kopfsteingassen. Über den unebenen graubraunen Steinen spannen sich geradlinig Girlanden aus dunkelgrünen Tannenzweigen. Diese münden an den pastellfarbenen Hauswänden in schön geschwungene Weihnachtssterne, die mit hellen Lichtern besetzt sind. Das morgendliche Erwachen der Stadt und die einsetzende Lebhaftigkeit in den mittelalterlichen Gassen versprühen ein romantisches Flair.
Landsberg liegt in Oberbayern an der ‚Romantischen Straße‘ und wird dieser Bezeichnung überaus gerecht. Die Stadt hat zwar nur etwa 30.000 Einwohner, eignet sich aber überaus wunderbar für einen gemütlichen Spaziergang an einem freien Vormittag. Obwohl die Grenze zu Baden-Württemberg nicht weit entfernt beginnt, merke ich sofort, dass ich in Bayern angekommen bin. Auf dem Brunnen des Marktplatzes sieht eine große Marienstatue gnädig auf mich herab. Auf dem goldenen Heiligenschein reflektieren sich die grellen Sonnenstrahlen und malen bewegte Lichtkringel auf den Stein des trockenen Brunnenrandes. Überragt wird dieser vom imposanten Bau der mächtigen Stadtpfarrkirche, die das höchste Gebäude der Altstadt darstellt. In der Luft schwirrt das Donnern der Lechfluten, die in der Nähe über mehrere Stufen des Lechwehrs strömen. Das feines Surren der aufspritzenden Gischt ist vom Flussufer wahrnehmbar. Es mischt sich sogleich mit den Geräuschen der Hektik und Lebendigkeit der menschlichen Massen in den Straßen.
Die in hellen Farben bemalte Fassade des Rathauses steht in starkem Kontrast zum intensiv blauen Himmel. Ich spaziere entlang des Flusses Lech zu den vielen gut erhaltenen Stadttoren und der Stadtmauer aus dem Mittelalter. Die vielen Salzstadel sind inzwischen schmucken Läden gewichen, die in den einladenden Gebäuden ihre vielen Waren anbieten. Früher war der Salzhandel für Landsberg ein sehr einträgliches Geschäft. Dieser begründete einst sogar den wirtschaftlichen Aufstieg der Stadt.
Im Jahre 1162, also vor etwa 860 Jahren, wird erstmals die Landesburg urkundlich erwähnt. Der Herzog von Bayern, Heinrich der Löwe, ließ diese zum Schutz der neu gebauten Brücke über den Lech errichten. Über diesen Steg führte fortan die Salzstraße. Das Gewürz kam von der Saline in Bad Reichenhall und wurde über Wasserburg, München und Landsberg bis in die Schweiz gebracht. Ab 1320 wurden hierbei Salzzölle erhoben. Auf diese Weise gelangte Landsberg durch den so genannten ‚Salzpfennig‘ zu ziemlichem Wohlstand. Früher war Salz so wertvoll wie Gold. 1353 wurde der erste Stadel gebaut. Bis zum 17. Jahrhundert waren es sogar insgesamt drei. In diesen Speichern wurde das Salz gelagert und auch verkauft.
Durch das Hexenviertel mit den vielen ehemaligen Gerber- und Färberhäusern führt der Weg kontinuierlich bergan auf den Schlossberg. Ich schlurfe über die unregelmässigen, unebenen Pflastersteine. Gegen den Wind ist der Weg zum Schloss eine echte Plackerei. Ich spüre wie die Beinteile meiner Jeanshose nach hinten gezogen werden und an meinen Waden kleben. Immer wieder fährt eine ordentliche Windböe durch die schmalen Gassen. Die Geschäfte zu beiden Straßenseiten sind festlich geschmückt. Über den Türen hängen Tannenzweige und rote oder goldene Christbaumkugeln. Seinen Namen erhielt dieser Stadtteil im 19. Jahrhundert. Viele Maler bevölkerten damals das romantisch anmutende Viertel. Häufig wählten sie die idyllischen Straßenzüge dieses Gebietes als Motiv ihrer Bilder. Eine Malerin, die durch ihr rotes Haar bei den Stadtbewohnern von Landsberg als Hexe galt, wohnte hier ebenfalls für kurze Zeit. Durch diese Frau erhielt das gemütliche Viertel seinen Namen. Im Mittelalter hingen hier die Gerber auf den Balkonen die Felle und Häute von Tieren zum Trocknen auf. Dieses Handwerk zählte zum stinkenden Gewerbe, deshalb wurde es am Stadtrand platziert.
Ich lege den Kopf in den Nacken und blicke hinauf zum Jungfernsprungturm. Der Halbturm wurde im 14. Jahrhundert errichtet. Im Jahr 1633 haben sich hier Mädchen und Frauen aus Angst vor den Gräueltaten der schwedischen Truppen im Dreißigjährigen Krieg zu Tode gestürzt. Einer alten Sage nach sprangen diese in ihrer Verzweiflung freiwillig in die Fluten des Lech. Eigentlich ist der Turm aber viel zu weit vom Wasser entfernt. Tatsächlich nahmen sich aber Frauen aus Furcht vor den Schweden damals das Leben. Die Namen dieser Einwohnerinnen sind noch heute im Kirchenbuch erhalten. Der 30 Jahre währende Krieg begann bereits 1618. Er verläuft in zahlreichen Schlachten zwischen den konservativen Katholiken und der protestantischen Bewegung, die sich durch Luthers Thesen von der katholischen Kirche abgespalten hatte. Die Katholiken waren in der Folgezeit stets bemüht den protestantischen Glauben auszumerzen und die alte religiöse Ordnung wieder herzustellen.
Auf Seiten der Protestanten griff Schweden in den Krieg ein. Das Land verlor dadurch seinen König Gustav-Adolf innerhalb der erbitterten Schlachten. Landsberg wurde 1633 von den schwedischen Truppen belagert und nach wenigen Tagen Schauplatz eines grausamen Massakers. Die von der langen Belagerung ausgezehrten und abgestumpften Söldner zogen im Blutrausch durch die Straßen der eroberten Städte und plünderten alles was nicht niet- und nagelfest war. Frauen und Mädchen wurden vergewaltigt. Säuglinge wurden aufgespießt durch die Stadt getragen. Vom vielen Blut färbten sich die Straßenzüge der Stadt rot. Das Gemetzel überlebten nur 500 Bewohner, die bereit waren sich den Heerestruppen anzuschließen. Ab 1635 schlug sich auch Frankreich mit finanzieller Unterstützung auf die Seite der Protestanten und Schweden. Das Heilige Römische Reich war mittlerweile völlig ausgezehrt, kriegsmüde und verelendet. Ab 1638 unterstützten auch Frankreichs Truppen die schwedische Armee und das protestantische Heer.
Dennoch sollten noch einmal über 10 Jahre mit kriegerischen Auseinandersetzungen vergehen bis endlich 1648 alle Parteien bereit waren die schon seit Jahren geführten Friedensverhandlungen von Osnabrück und Münster zu Ende zu bringen. Das heute unter dem Namen Westfälischer Friede bekannte Ereignis bezeichnet alle zwischen dem 15. Mai und dem 24. Oktober 1648 abgeschlossenen Friedensverträge und somit das Ende des Dreißigjährigen Krieges. Neben der Unabhängigkeit der Niederlande vom Heiligen Römischen Reich bekamen die Schweden mehrere Gebiete, u.a. ganz Vorpommern und das Herzogtum Mecklenburg. Auch Frankreich konnte sich in den Verträgen mehrere Gebiete sichern und war nun im Besitz der Städte Metz, Toul und Verdun. Neben Gebietsansprüchen wurden auch politische und religiöse Fragen abschließend gelöst. So wurde der katholische und der evangelische Glaube vollkommen gleichgestellt. Die protestantische Minderheit im Reichstag durfte in Religionsfragen nicht überstimmt werden, um die Gleichbehandlung auch wirklich zu gewährleisten.
Obwohl der Westfälische Friede einen Kompromiss zwischen den Kriegsparteien darstellte, war es vor allem für den Kaiser eine Niederlage. Die deutschen Fürsten konnten ihre Souveränität verfestigen und ausbauen. Das Staatsoberhaupt hatte fortan kaum noch Macht über sie. Es wurde ihnen zukünftig sogar gestattet Bündnisse mit auswärtigen Parteien zu schließen. Die Einschränkung, dass diese nicht gegen den Kaiser und das Reich selbst gerichtet werden dürfen, sollte sich bald darauf als gegenstandslos erweisen. Das Heilige Römische Reich war nun endgültig nur noch ein Rahmen um mehrere Einzelstaaten. Kein Wunder das Napoleon diesem im Koalitionskrieg 1806 den Gnadenschuss verpasste. Der Wind in den Gassen von Landsberg bläst immer kräftiger. Ein feiner Nieselregen setzt ein. Ich schließe den Kragen meines Mantels vor der Kälte. Nach so viel Geschichte in kühler Umgebung tut ein heißer Kaffee sicher gut. Ich öffne die Tür zum Café Lechberg. Das zierliche Bistro sitzt von einem kleinen Flussarm umspült auf der kleinen Insel eines Straßenzuges. Wie eine winzige Bücherei reihen sich im Inneren in den Regalen Romane, Märchen- und Sachbücher aneinander. Das überschaubare Café wirkt heimelig und beschütztend. Ich fühle mich wie in einem wärmenden Kokon. Schwerfällig falle ich auf eine altertümliche Barockliege, die wahrscheinlich noch aus der Zeit des deutschen Kaisers stammt. Die vielen seidenen Kissen dämpfen meinen Aufprall. Eng ist der Platz zwischen den kleinen Tischen. Von kriegerischer Auseinandersetzung ist hier keine Spur. Ich nicke meinem Sitznachbarn freundlich zu und bestelle einen Fairtrade-Kaffee.