Das Salemer Schloss erfüllt den gesamten Horizont. Die Fensterumrandung in knalligem Gelb zeichnet sich vage gegen die grauen Nebelfetzen in der Umgebung ab. Durchsichtigen Schlangen gleich schieben sich die filigranen Gebilde durch die Gänge zwischen den rustikalen Holzbuden. Salem am Bodensee beherbergte bis zum Anfang des 19. Jhds ein Kloster der Zisterzienser. Heute dient der gesamte Komplex als privates Internat. Die Anlage ist wunderschön und gut erhalten. Der kleine Weihnachtsmarkt erstreckt sich über das gesamte Gelände. Trist ragen die verwitterten bräunlichen Mauern der Klosterkirche in den wolkenverhangenen Himmel. Die Blätter der Bäume schwelgen aufgrund des sanften Winters meist noch in zartem Grün. Vereinzelt liegt gelbes und oranges Laub über die weitläufigen Wiesen verteilt. Direkt vor dem Schloss steht ein kahles Baumgerippe und gemahnt, dass das Wetter dennoch bald winterlich werden wird.
In der Umgebung der einsamen Holzbänke auf dem Rasen stehen die abstrakten Kunstwerke des hier ansässigen Schmiedes. In seiner Kunst- und Goldwerkstatt kann man ihm in der Glut des heißen Feuers seines Schmiedeofens beim Herstellen der modernen Skulpturen zusehen. An den Dächern der kleinen Holzstände flackern helle Lichter. In zusammengebundenen länglichen Trauben hängen an den Seiten der vielen Verkaufsbuden goldene Weihnachtskugeln und säumen die gesamte Szenerie in festlichem Glanz. Der Duft von frisch gebackenen Teigmännchen zieht mir wohltuend und geschmackvoll in die Nase. Die winzigen Rosinenaugen weit geöffnet und gewärmt von einem Schal aus Kuchenteig liegen diese kaufbereit in den Auslagen der Vereinsstände. Zusammen mit der kühlen Herbstluft ziehe ich das leckere Aroma tief ein. In einem kleinen abgezäunten Stall stehen drei Schafe. Desinteressiert wenden diese den Besuchern ihren Rücken zu und knabbern von dem angebotenen Stroh. Gelegentlich wenden sie dennoch scheinbar neugierig den Kopf. Es könnte ja sein, dass einer der Marktgäste etwas für sie mitgebracht hat.
Leise plätschert in der Nähe ein kleiner Bach unterirdisch am Schloss vorbei. Immer wieder störmt er einem plötzlich auftauchenden breiten Rinnsal gleich sichtbar an der Oberfläche. Bei den allgegenwärtigen Weihnachtsliedern ist die leise Melodie der Wellen kaum wahrnehmbar. Die vielen Interessensgruppen und Verbände aus der Umgebung von Salem unterhalten einzelne Adventsbüdchen mit selbstgemachten nützlichen Dingen. Die Jugendfeuerwehr verkauft gebratene Schupfnudeln und das Rote Kreuz Käsespätzle aus eigener Herstellung. Selbst die örtliche Zimmermannsgilde bietet Waffeln und eigens gebrauten Glühwein an. Man kann selbst genähte Stofftaschen und Geldbörsen bestaunen und selbstgemachte Marmelade oder Schnaps erwerben. Salems Weihnachtsmarkt hat sich wohltuend vom Ramsch der meisten Adventsmärkte befreit. Ich sehe weder Bratpfannen, noch Messer oder Töpfe. Alle angebotenen Waren haben eine gewisse Affinität zu Weihnachten oder der vorweihnachtlichen Zeit.
Die Tannenzweige der gebundenen Adventskränze verströmen einen angenehm würzigen Duft nach frischen Tannenadeln. Auf dem Holzdeckel, der während des Winters den Brunnen vor dem Schloss abdeckt, hängen kunstvoll drapierte Nadelzweige mit leuchtend roten Kugeln. Da stört auch der graue Gnom nicht, der in Stein gemeißelt vor dem Brunnen sitzt. Alles riecht und glänzt so weihnachtlich, dass man einfach nur stehen bleiben und sich in der angenehmen Vorweihnachtsfreude suhlen will. Im Weingut ‚Markgraf von Baden‘ findet gerade eine Weinverkostung mit anschließendem Verkauf statt. Der Weinanbau war eine der wichtigsten Einnahmequellen des früheren Klosters Salem. Der selbst produzierte Trank diente als Handelsgut, Zahlungsmittel und auch als Messwein oder Getränk zum Essen. Der Konsum war damals recht hoch. Wein galt zu dieser Zeit als gesünder als Wasser. Einem Pater standen daher knapp 1,4 Liter Wein zur Mahlzeit zu. Dieser Bodenseewein war allerdings kein Vergnügen. Er war dünn, sauer und enthielt wenig Alkohol. Wein an Festtagen, der aus anderen Gegenden kam, war von wesentlich höherer Qualität. Bei den guten Tropfen, die vom hier vom Winzer angeboten werden, ist das wirklich kaum mehr vorstellbar.
Die roten Blüten der zart duftenden Weihnachtssterne heben sich kaum vom Nikolausdekor der Servietten ab. Die goldenen Sterne der Tischtücher werden vom saftigen Grün der Tannenzweige unterbrochen, an denen dicke goldene Christbaumkugeln befestigt sind. Urige Winzerfässer und -bottiche sowie altertümliche Weinpressen unterstreichen das rustikale Ambiente. Ich spüre wie die erste weihnachtliche Vorfreude leise in mir aufkeimt, auf die ich solange gewartet habe. Wie diese in meinem ganzen Wesen anschwillt zu einer unbändigen und überbordenden Entzückung im Hinblick auf die kommenden Festtage und das bald beginnende neue Jahr. Meine frohe Erwartung finde ich als Reflexion in den Augen der anderen Gäste. Auf den fröhlichen Gesichtern spiegelt sich der zarte Schein der Teelichter in den Glashaltern auf den Holztischen. Tannenbäume schmücken stumm und still den Raum.
Ich sauge die angenehme Ruhe auf. Die Hektik des letzten Jahres fällt in Sekunden von mir ab. Nebenan ist die ‚Weinstube zum alten Gefängnis‘. Vor dem Winzer steht der kleine Stand einer Holzwerkstatt. Eine junge Frau bietet Sterne, Kreuze, Windlichter und Engel aus massivem Gehölz an. Bei der Katholischen Frauengemeinde gibt es selbstgestrickte Mützen und Socken. Der Schützenverein von Salem veräußert gebastelte Nikolausfiguren aus Birkenholz. Die Ministranten vertreiben Schokoladenäpfel. Es gibt auch Produkte aus einer Behindertenwerkstatt zu erwerben. Jeder offeriert etwas selbst hergestelltes. Auf simple und einfache Weise das, was er eben gut kann. Natürlich gibt es neben Feuerzangenbowle auch Unweihnachtliches, wie z.B. italiensiche Pizza. Allerdings ohne das gesamte idyllische Weihnachtsbild zu zerstören. Die schrillen Werbetafeln fügen sich einfach ein in das harmonische Gesamtbild.
In der Glasbläserei auf dem Gelände kann ich dem Handwerker direkt bei der Arbeit zusehen. Ein Glasstab wird erhitzt und die schmilzende Masse in zwei Stücke geteilt. Wunderbare farbige Glaskugeln entstehen oder winzige, bunte, gläserne Tiere. Die Varianten der Farbnuancen verzaubern die herbstliche Tristesse in ein winterliches Farbenspiel. In immer wieder neuem Muster leuchten die Farbkleckse im Grau der herbstlichen Umgebung wie einsetzender Klang des Frühlings. Im Geschäft des Glasbläsers werden auch Christbaumanhänger in allen Tier- und Sachformen verkauft, die man sich nur vorstellen kann. Zahlreiche Paradiesvögel wirbeln in Zweigen von der Decke und drehen sich in nimmer endendem Farbenspiel um die eigene Achse. An der weißen Wand des Hintergrunds spiegeln sich die unsteten Schatten in winterlichem Dunkel wie ein düsteres Kaleidoskop.
Selbst das kleine Feuerwehrmuseum innerhalb des Salemer Schlosses ist weihnachtlich geschmückt. In den Gängen stehen dicht an dicht die alten Feuerwehrwagen und Löschfahrzeuge und versetzen einen zurück in die Zeit von früheren Jahrhunderten. Im Schloss selbst gibt es einen kleinen Adventsmarkt in der Prälatur. Gläserne Jugenstillampen stehen neben Tischlichtern aus demselben Material. Wasserschalen aus Steinkeramik und mit blauem Glas ausgegossen leuchten in der Buntheit des Meeres daneben. Kleine Muscheln sind als Ornamente in das Geschirr gedrückt. Angespültes Wurzelholz und Strandschätze werden auch verarbeitet. Kleine Säckchen duftenden Salzes sollen als Badezusatz dienen. 200 Jahre lang war das Kloster Salem ein bedeutender Salzproduzent. Das Gewürz war ein bedeutendes Handelsgut. Es diente damals hauptsächlich zum Konservieren und Verfeinern von Speisen oder als Zahlungsmittel. Erst 1530 wurde der Produktionsbetrieb aufgrund von Personalmangel eingestellt.
Die wohlige Wärme des herannahenden Festes breitet sich in jeder Faser meiner Glieder aus. Der eindringliche Geruch von Räucherstäbchen mischt sich mit dem filigranen und zarten Aroma von Duftkerzen. Mir wird ganz schwindelig. Salem ist derart weihnachtlich, dass ich absolut froh bin hierher gekommen zu sein. Der Adventsmarkt versprüht eine frohe Feststimmung ohne mit den vereinzelten Holzbuden überladen zu wirken. Daran kann auch der immerwährende leichte Nieselregen dieses Tages nichts ändern. Ebenso wenig wie die plötzlich und abrupt aufziehende düstere Wolkenfront, die den Himmel in ein winterliches Nassgrau taucht. Schade, dass dieser Weihnachtsmarkt lediglich an einem Dezemberwochenende stattfindet. Endlich hat mich die weihnachtliche Vorfreude an diesem Adventssonntag fest in Griff! Jetzt kann das Christfest kommen!