Ich lege den Kopf in den Nacken und suche die Spitze des Gebäudes vor mir. Endlos spiegelt sich das obere Ende des Betonturms im blauen Himmel dieses Herbsttages. Es ist ein goldener Oktober mit viel Sonnenschein und angenehmen Tagestemperaturen von bis zu 25 Grad. Deutschlands einziger Testturm befindet sich in Rottweil, der ältesten Stadt Deutschlands. Der gewundene Schaft glitzert grauweiß im hellen Licht. Am obersten Punkt ragt der Teil eines Krans hervor. Von 2014 bis 2017 wurde das Bauwerk von der Firma Thyssenkrupp Elevator errichtet. Die Konstruktion besitzt auf 232 Meter Höhe die höchste Besucherplattform Deutschlands und ist der weltweit höchste Testturm für Aufzugsanlagen. 246 Meter hoch ist der Bau und dient der Erprobung und Zertifizierung von Aufzugsinnovationen. Er trägt so zu erheblichen Verkürzungen der Entwicklungszeit zukünftiger und bereits in der Konstruktionsphase befindlicher Wolkenkratzer auf der ganzen Welt bei. Nach oben hin wird der Turm immer transparenter und gibt dadurch mehr Ansichten der Bauweise frei. Mit 12 Schächten und Fahrgeschwindigkeiten von bis zu 18 m/s bietet die Einrichtung eine tolle Möglichkeit zur Erprobung und Lösung kommender Herausforderungen betreffend zukünftiger Aufzüge. Im Gesamten haben alle Schächte eine Länge von 1,5 Km.
100 Ingenieure planten eines der spannendsten Bauvorhaben Deutschlands, das in weniger als zehn Monaten im 3-Schichtbetrieb errichtet wurde. In der Bauphase wurden 30.000 Kubikmeter Aushub bewegt. Das entspricht etwa einem Gewicht von 60 Millionen gefüllten Wasserflaschen. Zum Einsatz kamen unter anderem 15.000 Kubikmeter Beton, 200 Felsnägel und 2.640 Tonnen Stahl. 40.000 Tonnen bringt der Turm heute auf die Waage. Das ist so viel wie etwa 8.000 Afrikanische Elefanten. Pro Tag wuchs der Bau um unglaubliche 3,6 Meter. 3 seiner 12 Schächte sind für den seillosen MULTI Aufzug vorgesehen, der völlig ohne haltende Kabel auskommt. Mit Höchstgeschwindigkeiten von 64,8 Km/H sausen die Aufzüge durch das Gebäude. Während der Fahrt können diese Strom erzeugen und dadurch etwa 30% ihrer Energie für Elektrizität wiederverwenden. 1.500 Mitarbeiter arbeiten auf dem Thyssenkrupp-Gelände. Das Bauwerk symbolisiert eindrucksvoll die Ingenieurskunst der Firma. Es steht im starken und unwirklichen Kontrast zur gesamten historischen Altstadt Rottweils aus dem Mittelalter. Trotz der imposanten Höhe verströmt die Fassade des elegant geschwungenen Turms ein äußerst leichtes und filigranes Erscheinungsbild. Die Architekten Helmut Jahn und Werner Sobek verkleideten den Betonschaft mit einer Stoffhülle aus Glasfasergewebe.
Der Werkstoff ist langlebig, selbstreinigend und transparent. Er schützt die Konstruktion vor intensiver Sonneneinstrahlung oder Wind und ermöglicht immer neue Lichteinfälle im Inneren des Turms. Das Gewebe beginnt am Fuß engmaschig und gibt nach oben hin immer mehr vom Gebäude preis. Dieses reflektiert das Licht dadurch zu unterschiedlichen Tages- und Jahreszeiten verschieden. Der Turm bekommt dadurch je nach Wetterlage und Zeit eine andere Anmutung. Durch die natürliche Kraft des Windes kann die Auslenkung des Baus bis zu 75 cm betragen. Um diese zu reduzieren ist ein Schwingungstilger eingebaut. Dieser ist weltweit der einzige seiner Art, welcher auch aktiv genutzt werden kann. Dabei bringt Thyssenkrupp in Testversuchen die Testeinrichtung mittels Linearantrieben zum Schwingen. Die Eigenfrequenz des Turms beträgt etwa 0,2 Hz. Die Büro und Konferenzräume der Firma liegen ebenfalls in dieser schwindelerregenden Höhe. Hier könnte ich niemals arbeiten, denke ich. Jeder Blick aus dem Bürofenster würde mich quälen.
Ich steige in den Fahrstuhl, um nach oben zu fahren. Meine Hände fassen die Metallstange vor der Fensterscheibe. Mit unerwarteter Schnelligkeit setzt sich der Aufzug in Bewegung. Abrupt und eilig wird die Distanz zum festen Boden immer größer. Schließlich erscheinen die Bäume, Häuser und Autos unter mir, als wären diese einem Miniaturland entsprungen. Meine Knie werden weich. Tapfer halte ich die Stange, weil ich das Gefühl habe meine Beine würden sonst gleich einknicken. Dann öffnen sich die Aufzugstüren wieder. Ich ziehe mich an der Glasplatte entlang zum Ausgang. Ein Freund von mir begleitet mich. Ich schiebe ihn hektisch und unsanft vor mir her. Nix wie raus, denke ich mulmig. Einer Menge von Besuchern trete ich beim Herausgehen auf die Fersen oder Zehen. Die Sonne kitzelt auf der Aussichtsplattform meine Nase. Dank des wunderbaren Wetters kann ich sowohl den Schwarzwald als auch die schwäbische Alb überblicken. In sicherem Abstand strecke ich meine Nasenspitze in Richtung Abgrund. Ist das furchtbar hoch. Mutig und mit kleinen Schritten kämpfe ich mich zur Metallabsperrung. Einer der Sicherheitsleute kommt auf uns zu. ‚Sie müssen Ihren Rucksack eigentlich unten einschließen.‘
Mein Freund muss die Tasche öffnen und diese dem Mann zeigen. Die 5 Mitarbeiter aus dem Eingangsbereich hatten alle nichts gesagt. Ich schmunzle. ‚So einfach ist es hier mit einer Bombe reinzulaufen. Aber Du hast sie doch eigentlich im Schuh versteckt, gell?‘ Dann bin ich sofort wieder ernst. Den wirklich lustig ist dies ja eigentlich nicht. Und die Fahrt nach unten steht mir bevor. Erneut klammere ich mich mit beiden Händen an die metallene Brüstung vor dem Panoramafenster des Aufzugs. Mit derselben Geschwindigkeit rast der Fahrstuhl wieder nach unten. Mein Magen wird flau. Ich fühle mich wie an Bord eines riesigen Freefalltowers. Ich hoffe mal, dass die Bremsen jetzt nicht versagen. Unten angekommen bin ich richtig zittrig. Man unterschätzt eine so wenig eindrucksvoll klingende Zahl wie 232m anscheinend leicht. Zufrieden und erleichtert stelle ich meine Füße wieder auf festen Boden. Ich atme durch. Vermutlich werde ich nie in einem Wolkenkratzer arbeiten. Und als Hotelpage mit Aufzugsdienst wahrscheinlich auch nicht.