‚Dienstags hat das Museum der Universität Tübingen geschlossen.‘ Mit bedauerndem Blick sehe ich auf. Das geht eigentlich nicht, weil ich nur heute und an einem Dienstag hier bin. Unschlüssig sehe ich meinen mitreisenden Freund an. ‚Also wenn ich komme, hat das Museum sicher offen.‘ Ich vertraue jetzt mal aufs Universum, das wird schon meinen Aufenthalt zu schätzen wissen. Etwas jämmerlich und unsicher klingt es dennoch. Das hätte auch Friedrich Miescher, der Entdecker der DNA so empfunden. Was bin ich eigentlich für eine Blogerin? Die Öffnungszeiten einer Sehenswürdigkeit sollte man natürlich vorab recherchieren. Jetzt bin ich aber nun mal heute in Tübingen. Entschlossen betrete ich das Gelände der Universität. Die Tür zum Schlosslabor steht einen Spalt weit offen. Zaghaft stoße ich das Tor auf. Das Museum liegt in der Dämmerung. Besucher sind keine darin. Ich schlurfe über das steinerne Eingangsportal. Aus einem kleinen Zimmer, in dem augenscheinlich die Verwaltung des Campus sitzt, ertönt das monotone Geräusch des Anschlagens von Computertasten. Ich strecke den Kopf durch den hölzernen Türrahmen. Die Sekretärin, eine Frau mittleren Alters, blickt auf. ‚Wir haben geschlossen.‘ Ihr Tonfall ist klar und endgültig. Ich versuche es dennoch mit einem Widerspruch. ‚Ich bin nur heute in Tübingen. Ich würde so gerne etwas über die Entdeckung der DNA schreiben.‘ Meine wenigen Worte überzeugen die Angestellte. Sie macht mir sogar das Licht innerhalb der Museumsmauern an. So habe ich die Ausstellung für mich ganz allein.
Hier im Schloss Hohentübingen entdeckte Friedrich Miescher 1869 das Nuklein als Bestandteil menschlicher Zellkerne. Diesen Stoff kennen wir heute als DNA und Träger unserer Erbinformation. Der Wissenschaftler legte damit den Grundstein für die moderne molekulare Biologie und Medizin. Sein Lehrer Prof. Felix Hoppe-Seyler untersuchte 1861 bereits den roten Blutfarbstoff und gab diesem den Namen ‚Hämoglobin‘. Was einst im Schlosslabor von Tübingen entdeckt wurde ist heute die Grundlage zukunftsweisender Forschungen für neuartige Impfstoffe oder Immuntherapien gegen Krebs. Mein Blick ruht auf dem Originalreagenzglas mit dem Friedrich Miescher im 19. Jhd. gearbeitet hat. Die historischen Geräte wie das altertümliche Mikroskop unterstreichen die entrückte, geschichtsträchtige Atmosphäre in dem leeren Museumsraum. In der Schlossküche der Universität von Tübingen wurde 1818 eines der ersten biochemischen Labore eingerichtet, das bald zu einer der weltweit ersten Forschungsstätten für Biochemie wurde. Tübingen war die erste Universität in Deutschland, die 1962 einen eigenständigen Diplomstudiengang für Biochemie anbot.
Vater und Onkel von Friedrich Miescher waren Professoren der Medizin, weshalb er ebenfalls diesen Weg einschlagen wollte. Er begann mit seinem Studium im Frühjahr 1868. Mit dem Plan, die Chemie einzelner, einfacher Zellen zu erforschen, widmete er sich im einzigen dafür geeigneten Labor innerhalb Deutschlands, dem Schlosslabor von Tübingen, den Leukozyten. Um an die weißen Blutkörperchen zu gelangen, benutze er Eiter aus den Wundverbänden des örtlichen Krankenhauses, indem er das Material auswusch. Später gelang ihm auch die Untersuchung von Spermazellen von Fischen. Um eine Zellsubstanz zu untersuchen, muss man sie zunächst von den anderen Stoffen der Zelle befreien. Dies ist ein schwieriges Unterfangen. Die Methode hängt davon ab, welchen Stoff man vor sich hat. Im Falle des Nukleins merkte Miescher schnell, dass es sich um keinen Eiweißstoff handelte. Daher suchte dieser nach Möglichkeiten, die Proteine der Zelle möglichst vollständig zu entfernen. Die Lösung fand er im Verdauungsenzym Peptin, dass er aus Schweinemägen gewann.
Täglich benötigte Miescher Nachschub an Eiter aus der chirurgischen Klinik des Krankenhauses um genug Material für seine Analysen zu gewinnen. Sehr lange hatte er an einer Methode gefeilt, um die Kernsubstanz vollständig vom Rest der Zelle zu trennen und analysieren zu können. Immer wieder benutzte er das Mikroskop um zu prüfen, ob die Kerne wirklich isoliert vorlagen. Er nannte die Substanz im Zellkern ‚Nuklein‘, nach dem lateinischen Namen für Kern ‚Nucleus‘. Da der Stoff saure Eigenschaften hatte bezeichnete man diesen bald als ‚Nukleinsäure‘. Erst mit einer ausreichenden Menge an Nuklein konnte er mit der Elementaranalyse beginnen, also die chemische Substanz der Zusammensetzung untersuchen. Es zeigte sich ein hoher Anteil an Phospor, der charakteristisch für die neue Substanz schien. Später fand man heraus, dass es verschiedene dieser Säuren gibt und Miescher eine gesamte Stoffgruppe entdeckte hatte. Mieschers Namensgebung versteckt sich bis heute in der ‚Desoxyribonnukleinsäure‘, kurz ‚DNS‘. Sie besteht aus den Sequenzen vier verschiedener Nukleinbasen, Adenin, Thymin, Guanin und Cytosin. Diese befinden sich in der DNS-Doppelspriale an der Stelle der Querstreben und treten dort immer als Basenpaare auf. Adenin kombiniert immer mit Thymin, Guanin mit Cytosin.
Erst viele Jahrzehnte nach der Entdeckung sollte die Welt erfahren, dass in der entdeckten DNS unsere Erbanlagen gespeichert sind. Erst 1944 wurde offiziell bestätigt, dass der Zellkern unser Erbmaterial enthält. Schon lange forscht die Medizin nach Möglichkeiten arzneiliche Wirkstoffe an Ort und Stelle im menschlichen Körper selbst entstehen zu lassen, statt sie dem Patienten medikamentös zu verabreichen. Dies gelingt z. B. in dem man entsprechend codierte DNS-Moleküle in den Körper einschleust. Die eingespeisten Zellen bewerkstelligen dann innerhalb der Zellen die Synthese des gewünschten Proteins. Auch von außen verabreichte DNS kann demnach immunologisch wirksam sein. Verbessertes Erbgut kann Fehler in der Erbinformation ausgleichen. Wie so oft in der Geschichte der Wissenschaft, hatten die Erfinder nichts mehr von ihrer wissenschaftlichen Arbeit. Zum Zeitpunkt der Entdeckung der DNS war Friedrich Miescher 24 Jahre alt. Sowohl er, als auch sein Professor Hoppe-Seyler erlebten die Anerkennung ihres besonderen Fundes im Jahre 1944 nicht mehr. Miescher starb im Jahr 1895 mit 51 Jahren an Tuberkulose.