Schattenseiten eines Festivals

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‚Ich kann Euch VIP-Tickets besorgen.‘ der ältere Mann legt zur Bestätigung die Hand auf seine Brust und deutet auf sich selbst. Er arbeitet in Zürich in einem Obdachlosenheim. Die Stadt hat Räume bereitgestellt, in der Menschen, die auf der Straße leben in sicherer Umgebung ihrem Drogenkonsum nachgehen können. Wenn diese allerdings sehr betrunken sind oder zu stark unter Drogen stehen müssen sie gehen. Dann wirft Victor diese aus dem Heim hinaus. Solange sich die Stadtstreicher ruhig verhalten, dürfen sie bleiben. Meine Freundin und ich sind an diesem Wochenende auf ein Festival in Schaffhausen in der schönen Schweiz gefahren. Wir hatten Victor an der metallenen Absperrung getroffen, die alle Besucher von der Bühne abtrennt. Gegenseitig wollten wir uns die ergatterten Plätze in der ersten Reihe freihalten. Julia und ich holen uns etwas zu trinken und Victor verteidigt unsere Stehplätze. Dann fängt Joris an zu spielen. Ist unsere schweizer Bekanntschaft auch anfangs noch sehr gesprächig, verändert sich sein Befinden nach den ersten Akkorden gewaltig und plötzlich.

Victor kippt immer weiter nach vorn in Richtung der Metallabsperrung. Seine Knie knicken ein. Schweißtropfen überziehen sein Gesicht und laufen an der Schläfe entlang die Wange hinunter. Auch seine Arme und Hände sind nass geschwitzt. Für eine kleine Weile ruht der Blick seiner trüben Augen auf der Bühne, dann schließen sich seine Lider. Er wirkt völlig apathisch und senkt den Kopf nach vorn. Julia klatscht neben mir begeistert zu Joris. ‚Alles ok?‘ frage ich den abwesenden Victor. Ein kleiner Spalt der Augen öffnet sich. ‚Ja klar.‘ stammelt er kaum verständlich. Meine Freundin winkt einen Securitymitarbeiter herbei. ‚Der Mann ist ziemlich fertig.‘ sie deutet mit dem Zeigefinger auf Victor ‚Gebt ihm bitte mal etwas Wasser.‘ bittet sie. Mit mürrisch verzogener Miene trinkt der Schweizer die lauwarme Flüssigkeit. Richtig fit wird er dadurch leider nicht. Nach ein paar Sekunden sinkt sein Gesicht wieder auf die Brust. Die Beine zittern wie Wackelpudding. Eine Sanitäterin erkundigt sich nach seinem Befinden. ‚Alles ok.‘ murmelt Victor beschwichtigend. Er wischt sich fahrig mit der Hand über das feuchte Gesicht. Dann fällt sein Kopf zur Abwechslung in den Nacken. Der Mund steht offen und formt ein lautloses O. Seine Handgelenke stützen ihn unstet auf dem Metallgitter ab. Er kippt ständig mit dem Oberkörper leicht nach hinten. Es scheint als würde die Schwerkraft ihr Übriges tun. Im letzten Moment krallen Victors Finger sich aber immer wieder um die eiserne Stange.

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Ein Mädchen auf der anderen Seite mustert den Mann erschrocken. Dann sieht sie ängstlich zu ihrer Familie. So langsam nervt mich die Situation. Es ist einfach ziemlich eklig den Schweißtropfen des offensichtlich unter Drogen stehenden Festivalbesuchers zu meiner Linken auszuweichen. ‚Schaut doch mal zu eurem Nachbarn.‘ vernehme ich Joris von der Bühne. ‚Und dann geht einfach mal zu diesem Mensch und umarmt ihn.‘ Entsetzt blicke ich zu Victor, der von dem Vorschlag des Sängers nichts mitbekommen hat. Er klebt für wenige Sekunden ohne Halt in der Luft vor dem Geländer. Dann fällt er wieder nach vorn. Beide Hände greifen zittrig nach der Metallabsperrung. Schließlich liegt sein Handy auf dem Gitter und seine Stirn ruht obendrauf. Ich blicke Julia an und schüttele energisch den Kopf. Das kommt für mich auf keinen Fall in Frage. Meine Freundin grinst. ‚Schaffhausen spring.‘ ertönt die nächste Aufforderung von der Bühne. Ich fange an zu hüpfen. Wieder ohne Victor. Immerhin kann er in diesem Gedränge nicht wirklich umfallen.

Als nächstes betritt Hecht die Bühne. Auf die Schweizer Rockband hatte ich gewartet. Begeistert hebe ich beide Hände und fange an zu klatschen. Julia und ich singen lautstark die schweizer Textzeilen mit. Wir springen dicht nebeneinander gedrängt zum Takt der Lieder in die Luft. Hier vorne ist wirklich der beste Platz. Wir können alle Musiker richtig gut sehen. Inzwischen ist es dunkel. Eine bunte Konfettibombe platzt über uns und die farbigen Papierfetzen überziehen in einem wilden Muster unsere Kleidung. Den Abschluss des Abends bildet James Blunt mit seiner Band. Victor wirkt mit einem Mal wieder erstaunlich fit. Kurz zuvor hatte er seinen Lolli aus dem Mund genommen und diesen auf der metallenen Absperrung abgelegt. Er hätte sonst nicht das Gleichgewicht gefunden um seine hintere Hosentasche zu schließen. Derzeit ist dies für ihn nicht mit einer Hand möglich. Nun wedelt er freudig und penetrant mit weit ausholender Armbewegung vor der Linse des nächstbesten Fotografen. Erstaunt sehe ich in das aufwachende Gesicht. Der leere Blick festigt sich und wird rege. Die Wirkung des eigenen Drogenkonsums so zu terminieren, dass man zu Beginn der eigenen Lieblingsband wieder fit wird, muss man erstmal schaffen. Aber Übung hat Victor wohl darin.

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