Die älteste Sozialsiedlung der Welt

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Ich streiche mit den Fingern entlang der alten Mauern. Mein Blick schwebt über die gleichmäßige braune Fassade, die dicht mit Efeu bewachsen ist. Rote und gelbe Blätter schmiegen sich elegant an die Hauswand. Durch die Strahlen der Nachmittagssonne leuchtet das herbstliche Laub in einem goldenen Licht. Kleine Sonnenkringel hüpfen als tanzende Lichter über die Steine des Innenhofs. Ein leichter Wind weht durch die losen Blätter und hebt diese sanft vom Boden. Gleichmäßig und ohne Hektik segelt das Blattwerk aus der Luft zu Boden. Die kalte Brise streift meine Wange und meine Handschuhe legen sich wärmend um mein Gesicht. Ich ziehe den Schal fester um meinen Hals und rutsche die Kapuze meiner Jacke zurecht. Die einzelnen Häuser sind fast identisch wie nebeneinander stehende Zwillinge. Die Monotonie und Einfachheit des Ortes versteckt geschickt was sich hier verbirgt. Die älteste Sozialsiedlung der Welt befindet sich in Augsburg in Bayern. Das sozialer Wohnungsbau ganze Heerscharen von Besuchern anlockt ist nicht gerade üblich. Hier ist dies aber so.

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Die reiche Kaufmannsfamilie Fugger, die in Augsburg lebte, machte sich aufgrund ihrer florierenden Geschäfte Sorgen um ihr Seelenheil. Schließlich waren deren Bankierstätigkeiten mit dem Erheben von Zinsen verbunden und dies untersagte die Kirche eigentlich. Der Kaufmann rief daher im Namen seiner Familie eine Stiftung ins Leben. Deren Ziel war es bedürftigen, armen Augsburgern ein Dach über dem Kopf zu geben. Die Miete betrug damals einen Gulden, heute sind dies 88 Cent pro Jahr. Dazu kommen etwa 85 Euro im Monat für die Nebenkosten, die ebenfalls von den Mietern getragen werden. Neben der symbolischen Mietgebühr hatten die Anwohner aber auch täglich ein Vaterunser, das Glaubensbekenntnis und ein Ave Maria für die Kaufmannsfamilie zu beten. Diese Verpflichtung gilt bis heute, daher dürfen auch nur Katholiken in dem altertümlichen Sozialbau wohnen. 116 Wohnungen befinden sich auf dem Gelände. Als die Augsburger sahen, dass in ihrer Stadt auf einmal ein neuer Stadtteil entsteht reagierten sie teilnahmslos. ‚Das wird wohl wieder so eine Fuggerei sein.‘ hieß es in Anspielung auf die berühmte Kaufmannsfamilie. So wurde das neue Areal ‚Fuggerei‘ genannt. Eigentlich lautete der Name der Händlersippe vermutlich ‚Fucker‘. So dürfte man heute ja auf keinen Fall jemand rufen.

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Der bekannteste Bewohner der Sozialsiedlung war Hans Mozart. Dessen Sohn Leopold genoss eine Ausbildung durch die ansässigen Jesuiten, wodurch er seine Liebe zur Musik entdeckte. Leopold wurde Komponist und Musiklehrer und gab seine musikalische Begeisterung an seinen Sohn Wolfgang Amadeus Mozart weiter. Bis heute wird die Sozialsiedlung aus dem Stiftungsvermögen von Jakob Fugger erhalten. Die Grundrisse der Wohnungen in den zweigeschossigen Häusern waren für die damaligen Verhältnisse sehr großzügig geplant. Die Fuggerei ist die erste moderne Form von Hilfe zur Selbsthilfe. Die Sozialsiedlung war für von Armut bedrohte Handwerker und Tagelöhner gedacht, die aus eigener Kraft, zum Beispiel wegen einer Krankheit, keinen eigenen Haushalt mehr führen konnten. Sie mussten innerhalb und außerhalb der Fuggerei ihrem Broterwerb nachgehen. Falls sie wieder gesund wurden, sollten sie dann wieder ausziehen. Allerdings durften nur ‚würdige‘ Arme einziehen. Völlig mittellose Bettler wurden nicht aufgenommen. Die meisten Wohnungen in der Fuggerei sind etwa 60 Quadratmeter groß und haben einen eigenen Eingang. Die im Erdgeschoss liegenden Wohnungen verfügen fast alle über einen Garten, die im Obergeschoss über einen Speicher. Lediglich eine der Wohnungen der Sozialsiedlung ist noch original erhalten und im Stil des 18. Jhds eingerichtet.

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Die Grundlage des Fuggervermögens entstand durch Baumwollhandel mit Italien. Ab 1493 stieg die Kaufmannsfamilie auch in den Abbau von Silber und Kupfer in Tschechien und der Slowakei ein. Das Unternehmen der Familie wurde zu einem Imperium, das europaweit Handel tätigte. Durch finanzielle Unterstützung und Gewährung von Krediten für Kaiser Maximillian I hatten die Fugger die Möglichkeit politische Begebenheiten zugunsten ihres Handels zu beeinflußen. Als einer der führenden Bankiers in Europa und durch enge Kontakte zum Vatikan beteiligte sich Jakob Fugger auch am Ablasswesen. Ablässe waren damals ein gängiges Mittel zur Finanzierung von Kirchen und Spitälern. Gläubige entrichteten Geld an die Kirche und wurden im Gegenzug durch den Kauf der Briefe von ihren Sünden befreit. Kein Mensch hat je so viel Geld wie Jakob Fugger besessen. Wenn man sein Vermögen auf heutige Kaufkraft umrechnet, stellt es das von Microsoft Gründer Bill Gates locker in den Schatten:  Es wären ca. 300 Milliarden Dollar, Gates dagegen besitzt ’nur‘ ungefähr 80 Milliarden Dollar. Jakob Fugger starb am 30. Dezember 1525 als der wohl reichste Unternehmer Europas. Ich mustere die gelblichen Gebäude und spaziere durch das weit geöffnete Tor aus der Sozialsiedlung hinaus. Überzeugt hat mich der Häuserkomplex. In meinem nächsten Leben werde ich ein Fugger.

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