‚Ob der Bus nach Carmel heute fährt weiß ich leider nicht.‘ die Stimme der jungen Dame an der Rezeption klingt gelangweilt und endgültig. Entsetzt schaue ich sie an. ‚Ich muss heute unbedingt nach Los Angeles.‘ sage ich mit Nachdruck und recht ungeduldig. Ich stelle mich mit meinem Riesenkoffer an den Rand der Schnellstraße und warte. Zum Glück kommt der Bus. Big Sur in Kalifornien ist ein wundervoller Fleck. Auch wenn man hier schwer hin und auch wieder wegkommt. Die Wellen des Meeres leuchten azurblau und schlagen in einer rauhen Wildheit auf den Küstensand. Hin und wieder erhasche ich aus dem Busfenster den Blick auf ein Haus in der Einöde. Die gesamte Gegend versprüht eine dezente einsame Romatik und schroffe Schönheit. Es fällt mir schwer hier wegzufahren. Die Weiterreise tut richtig weh. Wobei dieses Areal auch Probleme hat. Immer wieder breiten sich die Waldbrände im sommerlichen, trockenen Kalifornien auf die Küstenregion Big Sur aus. Ein Mann im Bus erzählt davon. Ich kann ihn deutlich verstehen. Er ist in diesem Gebiet aufgewachsen und niemals weggezogen. ‚Im großen Feuer 2010 ist meine Tante nochmal in ihr brennendes Haus zurück gelaufen, um ihre Katze zu retten. Sie kam dabei ums Leben. Daher mag ich Katzen überhaupt nicht.‘ sein Tonfall ist bedauerlich, hat aber Nachdruck.
Er rätselt mit einem anderen Buspassagier, was ein Zimmer in meinem Hotel wohl gekostet haben muss. So ganz kommen die beiden nicht in die Nähe des Betrags. Ich weiß es zwar, halte aber natürlich meine Klappe. Die beiden machen sich über die Touristen lustig, die absolut jeden Preis hier zahlen würden. ‚Für 200 Dollar würde ich jemanden in meinem Auto übernachten lassen.‘ meint der hier Einheimische und grinst gewitzt. Dann spucken mich die öffnenden Bustüren auf den Gehsteig von Monterey. Ich habe keine Ahnung mit welchem Gefährt und wo meine Reise weitergeht. Der Bus nach Los Angeles fährt noch nicht. Um die Zeit zu überbrücken ziehe ich die Tür zum nächsten Pub auf. Ich bestelle ein Cider und lasse mich auf einen der hölzernen Stühle fallen. Die einzige Besucherin des Pubs mustert mich. ‚Was machst Du hier?‘ ihr Tonfall ist lallend. Ihre Zunge ist vom Alkohol getrübt und schwer. ‚Ich habe kein Interesse.‘ abwehrend hebe ich die Hand in ihre Richtung. ‚Wenn es ihm wichtig ist, wird er hierher kommen und Dich suchen.‘ sagt sie fast unverständlich. Erstaunlicherweise errät sie meine Gedanken an die verlorene Beziehung. Vermutlich trägt sie ein ähnliches Erlebnis mit sich. Trotzdem habe ich keine Lust mit ihr zu reden. Die Dame nimmt ihr Glas und setzt sich mir gegenüber. ‚Erzähl mir was passiert ist.‘ Ich stehe auf und nehme meinen Koffer. Mein Getränk lasse ich stehen.
Letztlich sitze ich im Bus nach Los Angeles. Ich muss in Salinas umsteigen. Ein Mann in engen Jeans und mit Cowboyhut auf dem Kopf steigt vor mir ein. Er sieht aus wie ein Country- oder Rockstar aus vergessenen Zeiten, der kein Geld mehr für einen eigenen Tourbus während seiner Tournee hat. ‚Weißt Du, ob hier ein Liquorgeschäft in der Nähe ist?‘ fragt er mit vom Zigarettenrauch krächzend gewordener Stimme. Geradeaus signalisiere ich ihm mit ausgestrecktem Arm. Er trägt ein gebatiktes ärmelloses T-Shirt auf seiner Hühnerbrust und eine schützende Sonnenbrille auf den roten, matten Augen. Wir treffen uns wieder bei der Abfahrt des Busses. ‚Habt ihr den Alkoholstore gefunden?‘ frage ich höflicherweise. Er nickt ohne Interesse. ‚Ja, vielen Dank.‘ Als er sich in den Bus zieht, wirkt seine Handbewegung fahrig. Er hat wohl durchaus schon den ersten Schluck gekostet. Die braune Tüte aus dem Geschäft hält er dicht an den Körper gepresst, als befände sich ein Schatz von unvorstellbarem Wert darin. Die gesamte Fahrt verläuft ruhig.
Kurz vor Los Angeles höre ich die Sirene der Polizei. Im Busfenster sehe ich die hektisch blinkenden Lichter des Polizistenwagens. Die große Leuchtschrift der Anzeige auf dem Dach des Autos zwingt unseren Fahrer zum Stehen. An meinem Sitzplatz rennt ein Mädchen vorbei. Sie schwenkt ein Handy lose in der Hand. Gewaltsam reißt sie die verschlossene Bustür auf und stürzt sich hinaus. Verblüfft blicke ich zur Einganstür. Neugierig mustere ich die Polizisten, die gleich darauf in der Öffnung erscheinen. Die junge Frau war vor ihrem gewalttätigen Exfreund geflohen, der sie offenbar stets misshandelt hat. Sie wollte eigentlich aus dem fahrenden Bus springen, weil sie wohl ziemlich fertig ist und dadurch selbstmordgefährdet. Ein schier sinnloses Unterfangen, da unser Fahrzeug ja durch die Polizei schon gestoppt wurde. Der Sprung aus einem stehenden Bus bringt schließlich niemanden um. Ein paar Schrammen hat sich das Mädchen sicher geholt. Die Polizisten suchen jetzt in unserem Gefährt das Handy der jungen Dame. Sie hat es bei ihrer Fluchtaktion verloren.
Ich verstehe nicht, warum sie mitten auf der Autobahn die Cops angerufen hat. Sie hätte sich ja auch in Los Angeles am Busbahnhof abholen lassen können. Was in der jungen Frau in den letzten Stunden vorgegangen ist, kann niemand begreifen. Dennoch hat sicher jeder, der schon einmal einen Partner hatte, der ihm psychisch oder körperlich durch Provokation oder Gewalt zugesetzt hat, Verständnis für das Mädchen. Logisch ist ihr Verhalten absolut nicht erklärbar. Muss es auch nicht, Hauptsache sie fühlt sich jetzt sicher. Flucht ist einer der Mechanismen, die uns in gefährlichen Situationen schützen können. Auch wenn ein Angriff sinnlos wäre oder nicht funktioniert hat. Mit einer halben Stunde Verspätung kommen wir in Los Angeles an. Vor dem Bahnhof steht der abgehalfterte Countrystar mit seiner brauen Papiertüte aus dem Alkoholgeschäft. ‚Wollte sie wirklich aus dem Bus springen, um sich umzubringen?‘ fragt er mich ungläubig. Ich winke ab. ‚Bei dieser Fahrgeschwindigkeit hätte das ja kaum funktioniert. Wir waren einfach zu langsam.‘
Ein schön geschriebener, melanchonischer Bericht….mit Personen, deren Schicksale ich nicht näher wissen möchte….traurig
Alles Gute Dir, so dass Du bald wieder alles in vollen Zügen geniessen kannst.
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