Meine Tante bringt mich mit dem Auto zum Busbahnhof in San Jose. Auf der Carpool Spur darf man nur fahren, wenn mehrere potentielle Fahrer im Auto sitzen. Sonst wird eine hohe Geldsumme als Strafe fällig, etwa 600 Dollar. Schon ein zu schnell fahren von ca. 10 Meilen kostet in San Jose über 100 Dollar. Die Strafen für Verkehrsdelikte in Kalifornien haben es in sich und sind überaus strikt. ‚Vielen Dank für alles.‘ ich drücke Gaby zum Abschied ganz fest. Ich bin traurig, dass ich nun weiterziehen muss. Die Zeit mit der Familie war erholsam und schön. Dennoch locken mich auch Big Sur und die Metropole L.A. Ich weiß in jedem Fall, dass ich ganz sicher wieder zu Besuch kommen werde. Und dann bestimmt länger als zwei Tage. Mit dem Bus fahre ich durch das Landesinnere Richtung Monterey. Die Schilder von verschiedenen Weingütern ziehen beim Blick durch die Fensterscheibe am Straßenrand vorbei. Kalifornien ist eine bedeutende Weinanbauregion innerhalb der USA. Ganz bekannt dafür ist hier das Napa Valley.
Eigentlich wollte ich mir ein Zelt auf einem Campground anmieten. Der Zeltplatz ist von der Bushaltestelle mitten in Big Sur leider etwa 30 Minuten Fussweg entfernt. Entsetzt sehe ich den jungen Mann an der Rezeption der River Lodge inmitten der wunderschönen Region an der kalifornischen Küste an. Ich bin während dieser Reise nicht nur mit Handgepäck unterwegs und der Spaziergang würde ziemlich anstregend werden. ‚Ich gebe Ihnen das Zimmer zum gleichen Preis wie ein Zelt auf dem Campingplatz.‘ bietet mir der Angestellte an. Erleichtert atme ich aus. Das ist ein Rabatt von fast 50%. Der Küstenstreifen an diesem vergessenen Fleck ist wunderschön. Dennoch ist man ohne Auto hier völlig aufgeschmissen. Dessen war ich mir nicht bewusst. Etwas blauäugig war ich einfach los gefahren und hatte mich über die verfügbaren Verkehrsmittel innerhalb von Big Sur kaum informiert. Ich bewohne eine kleine Holzhütte mit einem Zimmer und integriertem Bad. Ständig raschelt etwas in den Gebüschen des Waldes hinter den Blockhäusern. Im Hintergrund plätschert laut die Strömung des nahen Flusses. ‚Wie weit läuft man zum Andrew Molera State Beach?‘ frage ich die junge Frau an der Information des Hotels. ‚Etwa 15 Minuten.‘ ihre Auskunft ist kurz und knapp. Entschlossen marschiere ich los. Nach 30 Minuten mache ich mir das erst Mal Gedanken, ob ihre Auskunft vielleicht auf eine Anfahrt mit dem Auto bezogen sein könnte.
Für Spaziergänger ist der Highway nicht gemacht. Ich laufe auf dem Seitenstreifen an der Schnellstraße. In den USA fährt jeder Auto. Als nächstes tue ich das auch. Ich klopfe an die Scheibe eines parkenden Wagens. Das junge Pärchen auf den Autositzen sieht mich zunächst verblüfft und dann fragend an. ‚Wisst ihr wo es zum Molera Beach geht?‘ frage ich völlig planlos. Ich klinge bestimmt inzwischen genervt, kann aber aufgrund meiner Stimmung nichts dagegen tun. Der junge Mann hinter dem Lenkrad strahlt mich hilfsbereit an ‚Sollen wir Dich ein Stück mitnehmen? Du würdest noch eine ganze Weile laufen.‘ Dieses Angebot muntert mich schlagartig auf. Ich öffne die Autotür und falle auf den hinteren Sitz. Soviel zu der Auskunft über 15 Minuten Fussweg von der Rezeption. Auf den beiden ersten zierlichen Schildern am Feldweg der zum Eingang des Andrew Molera State Parks führt steht Strand in verblasten schwer lesbaren Lettern. Ich folge der angegebenen Richtung bereitwillig. Dann erblicke ich keinen Hinweis mehr. Suchend schlendere ich den erstbesten Feldweg entlang. Ein Strand ist hier absolut nicht zu sehen. Ich laufe zurück. An einer Biegung hatte ich einen breiten Flussarm entdeckt, der einen Pfad völlig geflutet hatte. Ein junges Mädchen kommt mir entgegen und watet durch das Wasser.
Entschlossen kremple ich meine kurzen Hosen nach oben. Irgendwo muss der Strand ja sein . ‚Geht es hier zum Molera Beach?‘ frage ich die junge Dame freundlich. Sie nickt schüchtern. ‚Es sind etwa 10 Minuten zu laufen.‘ informiert sie mich. Erleichtert betrete ich das Wasser. Es ist viel zu tief. Bald sind meine Oberschenkel feucht und meine kurze Hose ist völlig durchnässt. Selbst im Bikini wäre ich total nass geworden. Der Jeansstoff saugt sich mit Flusswasser voll. Ich wate langsam und entspannt weiter. Am Ufer entdecke ich einen weiterführenden Pfad. Die Wildblumen entlang des Weges wogen in einer sanften Brise in zartem Dunkelblau. Zierliche Vögel flattern niedrig über dem Erdboden ins undurchdringliche Dickicht. Noch vor Sonnenuntergang erreiche ich den goldenen Sand. Die Sonne steht noch hoch am Himmel. Die goldenen, kühlen Strahlen des Nachmittags wirbeln auf den gelblichen Sandkörnern. Wild fährt der Wind durch die Blätter der Bäume und lässt diese in einer rauschenden Melodie tanzen. Manchmal weiß man erst, warum man an einen Ort gegangen ist, wenn man angekommen ist. So ist es auch hier. Dieser Platz ist so furchtbar schwer zu finden. Und in sich so wunderschön und angenehm harmonisch.
Als mich die Schönheit dieser Natur und das zarte Plätschern der Wellen umgibt, nehme ich wahr, dass ich angekommen bin. Ich habe mein Abenteuer erreicht. Direkt neben mir pocht ein Specht zum erfrischenden Gesang des Windes. Jetzt glaube ich, dass sich die Sucherei gelohnt hat. Der Pfad wird immer schmaler. Bunte Wildblumen zeigen mir den Weg und neigen ihren Kopf fast bis zum staubigen Sand. Kein Mensch kommt mir entgegen. Der Boden ist durchzogen von den Löchern von Wühlmäusen. Brennesseln teilen sich die zartgrüne Böschung gemeinsam mit Brombeersträuchern. Das Rauschen des Meeres vermischt sich mit dem Lied des Windes zu einer lieblichen Melodie. Es ist kalt und überhaupt nicht sommerlich. Meine nasse Hose klebt wie ein fest gefrorener Eiszapfen an meinen Beinen. Die Atmosphäre spiegelt die Wildheit der schroffen Küste wieder. Noch eine Biegung des Weges und ich bin da. Mein wundervoller, wenn auch mühsamer Spaziergang endet direkt am langen Sandstrand. Der Anblick trifft mich unerwartet und verschlägt mir fast den Atem. In wilder Kraft schlägt die weiße Gischt der Wellen an den grauen Sand des Uferstreifens.
Angeschwemmtes Holz und ans Ufer getriebene Steine bilden bizarre Gebilde über den rauen Naturstrand verteilt. Eingesäumt von grasbewachsenen, hügeligen Felsen liegt dieser wunderschöne Fleck Erde. Der Wind zieht heftig an meinen Haaren. Einzelne Strähnen lösen sich durch die raue Stärke leicht aus meinem Zopf. Ich bin umgeben von einer wilden und schroffen Schönheit. Eingerahmt von der unberechenbaren Naturgewalt des Meeres. Eine ungebändigte Macht, die nicht so leicht zu brechen ist und mir Respekt einflößt. Die Entdeckung dieser wundervollen Szenerie war den ungewöhnlichen Weg hierher wert. Auch wenn ich froh bin, wenn mich entlang der Schnellstraße zur Rückkehr wieder ein freundlich gesinnter Autofahrer mitnehmen wird. Ich lausche dieser unglaublich friedlichen und entspannten Melodie aus Naturtönen. Banale Zufriedenheit macht sich in mir breit und füllt mich aus. Vielleicht muss ich gar nicht zurück und bleibe über Nacht einfach hier.