Es ist der Samstag vor Memorial Day. Dies ist ein amerikanischer Feiertag, der jedes Jahr am letzten Montag im Mai zu Ehren der im Krieg für das Vaterland Gefallenen begangen wird. Der gesamte Hafendistrikt San Fransiscos platz aus allen Nähten. Immer mehr Touristen und Tagesausflügler steigen aus den Bussen und kleinen Booten und laufen auf den Pier 29. Die Vergnügungsmeile der kalifornischen Metropole droht in naher Zukunft zu bersten. Wehmütig sehe ich den Hafenrundfahrten hinterher, die genau auf die am Horizont treibende Gefängnisinsel Alcatraz zufahren. Ein Eintrittsticket zur Haftanstalt zu bekommen ist unmöglich, für die nächsten Tage sind alle Rundfahrten ausgebucht. Eigentlich hatte ich mich schon die Zelle des berühmten Mafioso Al Capone betreten sehen. Jetzt trete ich nur unruhig und enttäuscht von einem Fuß auf den anderen. Unschlüssig verwerfen mein Freund und ich unseren geplanten Tagesablauf. Ich drehe mich um die eigene Achse. Was könnten wir denn jetzt mit diesem Tag anfangen? Direkt hinter uns liegt der Eingang zum San Francisco Dungeon und nimmt uns blitzschnell die Entscheidung über den weiteren Verlauf des Tages ab. Zielstrebig marschieren wir los. Hier hält sich der menschliche Andrang zum Glück dezent in Grenzen.
Colonel Jack Gamble, ein Geschäftsmann aus dem San Francisco des 18 Jhds. nimmt uns in Empfang. Er trägt ein buntes Karnevalskostüm und einen ausgebeulten Zylinder. Auf seinen Lippen blitzt ein hinterhältiges Grinsen. Ich frage mich, ob er eigentlich die Zähne blecken will. Er stellt uns das Rad des Schicksals vor, an dem sogleich ein Freiwilliger aus unserer Touristengruppe drehen darf. Neben Gold und einer Kreuzfahrt in der Bucht von San Francisco gibt es auch einen Abend in Mrs. Pigotts Salon zu gewinnen inkl. freiem Amusement. Als das Rad auf Vergeltung stehen bleibt flackern alle Lichter auf dem Marktplatz. Unser Trip ins Unglück beginnt. Behäbig öffnen sich die Türen eines alten Minenaufzugs und unsere Besuchergruppe drängelt sich hinein. Das Portal schließt sich langsam. Wir fahren weit in die Tiefe von Sutters Mine. Während des Goldrausch im Jahre 1849 zogen Scharen von Goldsuchern in den Nordosten von San Francisco, in die Sierra Foothills. Hier in Sutters Mine wurden die ersten Spuren von Gold gefunden. Nach einiger Zeit sind die Goldreserven allerdings so gut wie erschöpft und die Siedler suchen verzweifelt nach weiteren Vorkommen des Edelmetalls. Die Menschen versuchen sich gegenseitig das Gold streitig zu machen und bestehlen sich. Das Leben unterliegt rauen Umständen. Ich tapse voraus in die Düsternis.
Es gilt nun den Weg aus den Stollen zu finden. Immer wieder stoße ich an eine Glaswand und erblicke mein eigenes Spiegelbild. Meine Hände tasten sich voran. Ich folge dem Rest der Gruppe. ‚Schnell, beeil Dich.‘ raunt eine körperlose Stimme in mein Ohr. Vor uns öffnet sich eine perfekt in der Wand verborgene Tür. Eine ältere Frau späht hindurch. Sie winkt uns herbei und führt uns durch die Straßen von San Francisco. Dieses Gebiet wird von der Straßengang ‚The Hounds‘ kontrolliert. Die Dame, die uns hierher gebracht hat ist natürlich ein Mitglied. ‚Auf welcher Seite stehst Du?‘ schreit sie plötzlich und unerwartet einen Mitbesucher an. Der Unglückliche antwortet prompt ‚Auf der guten Seite!‘. Leider glaubt die Straßenbande ihm nicht und er landet in einem Käfig. Ich vermeide mit den Schauspielern des Dungeon jeglichen Blickkontakt. Ich habe keine Lust aus der Touristengruppe heraus gesucht zu werden, um am Schauspiel teilzunehmen. Mein Plan geht auf. Es trifft jemand anderen, der nun schon auf einem Folterstuhl sitzt. Währenddessen erklärt uns das Gangmitglied der ‚Hounds‘ ohne Regung und völlig ruhig alle Züchtigungsmethoden.
Die Truppe gab es wirklich. Sie machten die Straßen während des Goldrauschs 1849 unsicher. Offiziell nannten diese sich ‚San Francisco Society of Regulators‘. Eine Gruppe aus Schlägern, Verbrechern und Kriegsveteranen. Sie machten Jagd auf ankommende Ausländer, die sich ebenfalls auf die Goldsuche machen wollten. Ihre Taktiken waren gnadenlos. Wahllos plünderten und verbrannten sie Läden und töteten jeden, der sich ihnen widersetzte auf brutale Weise. Nach einem Überfall auf eine spanische Stadt wurden alle Gangmitglieder verhaftet und verurteilt. Darunter der Anführer Sam Roberts. Der öffentliche Groll und die Feindseligkeit gegenüber der Bande verhinderten, dass sich die Gruppe neu organisieren konnte. Die meisten Gangmitglieder verließen San Francisco kurz nach ihrer Freilassung. Plötzlich klopft es lautstark und schroff an die Tür. Ich zucke zusammen. ‚Aufmachen sofort.‘ bellt eine raue Stimme vor dem Tor. Entsetzt sieht die Frau auf den Besucher, den sie zuvor in den Käfig gesperrt hat. ‚Du hast unser Hauptquartier verraten!‘. Der nächste Raum führt direkt ins Gericht. Ich setze mich auf die harte Bank im überschaubaren Gerichtssaal. Nacheinander werden verschiedene Fälle behandelt. Das Mädchen, das neben mir sitzt muss vortreten. Sie wird laut ausgebuht. Sie hat stark betrunken in der Öffentlichkeit getanzt und einem Mann ein Glas ins Gesicht gehauen. Ebenso hat jemand eine Flasche Whiskey im Salon gestohlen und ist dann mit einer der Tänzerinnen durchgebrannt. ‚Geben wir Ihnen einen fairen Prozess.‘ meint die Richterin ‚Und hängen wir sie dann auf.‘
Ich öffne die Tür zum nächsten Zimmer. Wir betreten Mrs. Pigotts Salon. Sie mustert uns streng. Jemand hat eine Flasche Whiskey geklaut. Der ist doch schon verurteilt, denke ich. Schließlich war ich ja gerade bei der Gerichtsverhandlung. Plötzlich bohrt sich ein metallischer Lauf in meinen Rücken. Die Bardame ist eine charmanten Gastgeberin, die uns zu einem Drink in ihre Bar gelockt hat. Hat sie uns in einen betrunkenen Zustand versetzt, werden wir an Bord eines Schiffes geladen und als unfreiwilliges Besatzungsmitglied verkauft. Jetzt sitze ich da, die Pistole im Rücken. In völliger Dunkelheit lädt man uns auf das Schiff. Mrs. Pigott hat uns an den amerikanischen Verbrecher James ‚Shanghai‘ Kelly verkauft. In den frühen 1870er Jahren soll Kelly an einem einzigen Abend 100 Männer für drei unterbesetzte Schiffe gekidnappt haben. Er veranstaltete auf dem Raddampfer Goliath eine kostenlose Schnapsfahrt, um seinen Geburtstag zu feiern. Ebenso wollte er Freunden Dankeschön sagen, die ihn über die letzten Jahre hinweg unterstützt hatten. Nachdem er Hafen verlassen hatte, servierten Barkeeper seinen Gästen mit Opium versetzten Whiskey. Er kidnappte die unter Drogen gesetzten Männer und verkaufte diese an Schiffe, denen noch Matrosen fehlten. Seine größte Sorge war an diesem Abend ohne Männer zum Hafen zurück zu kehren. Sicher würde jemand aufgrund des leeren Bootes Verdacht schöpfen. Der glückliche Umstand, dass zur selben Zeit die ‚Yankee Blade‘ auf einen Felsen gelaufen war rettete ihn. Nachdem er alle an Bord gerettet hatte, nahm er einfach die Feier wieder auf und bei seiner Rückkehr fiel niemandem etwas auf.
Ich wische mir die nassen Tropfen der Bootsfahrt von der Wange. Langsam steige ich von Bord. Um 1900 wütet in den Straßen des Stadtviertels Chinatown die Pest. Überall liegen Leichen und es wimmelt von Ratten. In einer Arztpraxis erwartet uns eine sehr zottelige Frau mit rotem, lockigem Haar. Sie informiert uns, dass der Doktor heute nicht da ist. Wahrscheinlich hat ihn auch schon der schwarze Tod hinweggerafft. ‚Also werde ich stattdessen heute die Autopsie durchführen.‘ erklärt die Dame ganz selbstverständlich und nebenbei. Ihre Hände gleiten tief in den Bauchraum der Leiche auf dem Seziertisch und wühlen aufgeregt durchs Gedärm. Schon hat sie das Herz herausgerissen und hält es in unsere Richtung. Ein paar Tropfen spritzen dabei in mein Gesicht. Erschrocken weiche ich zurück. Auch wenn das sicher nur Wasser war, genau wissen kann man es nicht. Abrupt deutet der lange Finger der Schauspielerin auf meinen Freund. ‚Du siehst krank aus. Bist Du auch infiziert? Komm her ich werde Dich untersuchen.‘ Ihr gestreckter Finger biegt sich um ihn herbei zu winken. Er wird auf einem Stuhl fest geschnallt. Die Frau zeigt uns ihr medizinisches Gerät um die Seuche festzustellen. Dann schließt sie mit Schwung den Vorhang um den Stuhl meines Freundes. Ich kann nur noch die beiden Schatten wahrnehmen. Etwas komisch ist mir jetzt schon. Gespannt beobachte ich die Bewegung der Schemen. Ein Schrei zerreißt die Stille und Blut spritzt auf den Stoff.
Ein Wärter führt uns in eine große Gefängniszelle mit hölzernen Sitzbänken am Rand des Käfigs entlang. In der Mitte befindet sich ein Tisch. Nachdem alle Besucher Platz genommen haben, wird die Zellentür verschlossen. Der Aufseher erzählt uns die Geschichte eines ehemaligen Häftlings von Alcatraz. Er wurde schlecht von den anderen Insassen behandelt. Zuletzt hat er dies nicht mehr ertragen. Er war derart verzweifelt, dass er sich schließlich das Leben nahm. Sein Geist sucht nun die Korridore und Zellen des Gefängnisses heim. Wie durch einen feinen Schleier höre ich die Musik einer Mundharmonika. Fast als würde ein feines Netz zwischen den kalten Mauern und dem Lied liegen, dass die Melodie von der Realität trennt. Der Klang des Musikinstruments wird kontinuierlich lauter. Eine unsichtbare Hand verschiebt langsam die Gegenstände auf dem Tisch in der Mitte des Raumes. Unstet flackert das Licht, nur um sofort wieder aufzuleuchten. Dann versinkt der Raum für Sekunden in Finsternis. Als ich wieder sehen kann steht der Gefangene in seinen zerrissenen Kleidern direkt vor mir. Erschrocken drücke ich mich von ihm weg an die Gitterstäbe. Der Man schreit und stampft im flackernden Licht auf mich zu. Dann geht das Licht erneut aus und er taucht plötzlich an anderer Stelle wieder auf. Ich muss erstmal zu Atem kommen. Keuchend stehe ich auf. Ich bin so erschrocken. Meine Hand fasst an meinen Hals. Ich atme stoßweise und schwer. Als die Tür wieder aufgeschlossen wird bin ich erleichtert. Nach ein paar Schritten umfängt mich die Sonne in San Franciscos Straßen. Die warmen Strahlen vertreiben das Erlebte und fühlen sich gut an. Scheint als hätte ich doch noch etwas tolles heute erlebt. Ein Abenteuer.