Von Bukarest fährt man mit einem Schnellzug in 3h nach Brasov in Transsylvanien. Während der ICE in Deutschland etwa 250 Km/h fährt, bringt es der schnellste Zug in Rumänien auf 120 Km/h. Die Züge sind auch nicht so pünktlich wie in Deutschland. Also stehe ich pünktlich und einsam auf dem Bahnsteig und warte auf den Zug. Zehn Minuten nach der angegebenen Abfahrtszeit betreten die ersten Einheimischen die Treppen zum Gleis. Eine Zigeunerin kommt mit einem kleinen Kind auf dem Arm mit wehleidig verzogenem Gesicht auf mich zu. Ich kann ihren weinerlichen Singsang und das langgezogene rumänische Gestammel nicht verstehen. ‚Nein.‘ sage ich desinteressiert. ‚Ja.‘ knallt die Bettlerin mir sofort an den Kopf. Aggressiv schaut sie mich an. Verblüfft schaue ich zu. Ich hatte mich nicht verhört. Sie greift nach meiner vollen Wasserflasche und wiederholt kontinuierlich das einzige englische Wort, das sie kann. ‚Yes. yes.‘ Ich presse das Plastikfläschchen an mich. ‚Gib ihr die Flasche besser. Die Zigeunerfamilien sind ziemlich aggressiv. Ich kenne ein Mädchen, dem hat eine Roma in den Finger gebissen.‘ rät die junge Frau neben mir. Eindringlich sieht sie mich an. Der große Rucksack auf ihren Schultern enttarnt sie ebenfalls als Reisende. Ich gebe das Wasser frei. Gierig greift die Schnorrerin nach der Flasche und spaziert davon. Das Baby hält sie grob mit den Armen umfasst.
Am Eingang zum Bahnhof taucht eine ganze Zigeunersippe auf. Sie tragen alte Kleider, Schuhe und Kochutensilien in großen Beuteln. Ein kleiner Junge müht sich mit einem großen Bettbezug. Vollgestopft mit Kleidern liegt das Laken zusammengerollt auf seinem Kinderrücken ebenfalls als Tasche. Schwer liegt es auf seinen Schultern und drückt den armen Zwergträger schier zu Boden. Immer wieder rutscht ihm das Betttuch vom Rücken. Verzweifelt ruft der Kleine seiner Familie hinterher. Er versucht das Kleiderknäuel hinter sich her zu ziehen. Das Gewicht ist einfach zu schwer. Die Romagruppe ist bereits nicht mehr sichtbar. Der Junge weint und kreischt verzweifelt weiter. Seine Familie hört ihn endlich und kommt zurück. Schimpfend schreien sie ihn an und für sein Unvermögen erntet er einigee ordentlich schallende Ohrfeigen. Dann zieht die ganze Gruppe davon und mein Zug fährt ein.
Brasov liegt zentral in Siebenbürgen und besitzt eine schmucke, mit stuckverzierten Patrizierhäusern gesäumte Altstadt. Fachwerkhäuser stehen auf den kopfsteingepflasterten Gehwegen und schmiegen sich in die Stadtbefestigungen des mittelalterlichen Innenstadtkerns. Über dem Rathausplatz erhebt sich eine Kirche aus schwarzen Steinen, die Biserica Neagră. In den Randgebieten der Stadt kann man täglich Braunbären sehen, die in den Mülltonnen nach Essbarem suchen. Diese leben in den Wäldern rund um Brașov noch in freier Natur. Der Bus nach Bran fährt eine Stunde durch ländliche Umgebung und vorbei an Bauerndörfern bis zu Draculas Schloß. Die Burg ähnelt Bram Stokers Version vom Palast des Blutsaugers in seinem Roman enorm. Dennoch hat der wahre Vampirfürst Graf Dracula das Schloss in Bran wahrscheinlich nie betreten. Diese Assoziation lockt lediglich die Touristen an. Rotwein mit dem Etikett der Burg kann man hier dennoch kaufen. In der Flasche schwimmt ein blutroter Cabernet Sauvignon.
Die Geschichte um Dracula geht auf Vlad den Pfähler zurück. Seinen Beinamen ‚Draculea‘ hatte er durch die Mitgliedschaft seines Vaters Vlad II. Dracul im Drachenorden. Übersetzt bedeutet das Wort ‚Sohn des Drachen‘. Drac ist aber auch das rumänische Wort für ‚Teufel‘. Seine Berühmtheit erlangte der Fürst durch seine unglaubliche Grausamkeit. Er hatte die Vorliebe seine Feinde bei lebendigem Leib zu pfählen, daher trug er den Beinamen ‚Țepeș‘, was übersetzt ‚Pfähler‘ heißt. Vor den Städten verwesten oft die toten Körper auf Stäbe gespießt als Abschreckung gegen Diebe, Lügner und Mörder. Die Pfahlhöhe entsprach dem Rang des Opfers. Wer sich weigerte seinen Hut vor dem Fürsten zu ziehen bekam diesen an den Kopf genagelt. Überlieferungen zufolge sollen Verbrechen durch Vlads Strenge bald nach seinem Regierungsantritt weitgehend verschwunden sein. Prinz Dracul soll für den Tod von 40.000 – 100.000 Menschen verantwortlich sein. Das Töten soll ihm sadistischen Spaß gemacht haben. Erzählungen berichten von Pfählungen, Verbrennungen, Verstümmelungen, Ertränkungen, Enthäutungen, Röstungen und Kochen der Opfer. Einige sollen zur Bestrafung gezwungen worden sein, das Fleisch ihrer Freunde oder Angehörigen zu essen. Seine Opfer waren Männer und Frauen allen Alters, sowie Kinder und Säuglinge. Vor seinem Schloss errichtete er einen Wald aus Pfählen für den tausend türkische Soldaten sterben mussten.
Laut heult der Wind durch die alten Mauern, lässt die schiefen Steinwände der Anlage erzittern und fährt schaurig klirrend durch die Windspiele vor dem Schloss. Von kahlen Bäumen umgeben reflektiert die Umgebung die Trostlosigkeit der alten Mauern wie ein Spiegelbild. Kühle Böen wehen durch jede noch so kleine Ritze und spielen stürmisch mit meinen Haaren. Ich friere. Die ausgetretenen Dielen der Holzböden knarrzten bei jedem Schritt. Ihr Echo verhallt unheimlich in den hohen Hallen bis der nächste Windstoß es mit sich reißt. Die Atmosphäre passt perfekt zu der Geschichte von Graf Dracula und ein richtiger Blutsauger würde mich hier nicht überraschen. Vielleicht fliegt er mich sogar zurück nach Deutschland. Ich müsste dann nicht am Ende meiner Osteuropareise in Chisinau bei Air Moldova einsteigen. Ich hatte von dieser Airline noch nie gehört. Lieber würde ich mit Dracula fliegen.