Ich sehe was, was Du nicht siehst

Beständig und mit desinteressiertem Blick schaut die Kuh mich an. Wende ich mein Gesicht dreht sich ihr Kopf synchron zu meinem mit. Zenzis starrer und eindringlicher Sicht kann ich nicht entrinnen. Das Rindvieh ist ein Anaglyph. Im Jahre 1853 wurde ein Verfahren erfunden, um in den Farben Rot/Grün oder Blau/Rot dreidimensionale Fotografien und Grafiken darzustellen. Betrachtet man die mit roten und grünen Schatten unterlegten Bilder, so erscheinen diese als räumliche Objekte. Ich stehe vor der 3D-Fotografie einer Kuh im einzigen Museum der 3. Dimension Deutschlands in Dinkelsbühl. In der alten Stadtmühle der überschaubaren Kleinstadt wurde 1987 die Ausstellung voller Sinnestäuschungen eröffnet. Ich schlendere an den verschiedenen Holografien vorbei. Je nach Blickwinkel verändern sich die dargestellten Figuren. Ein übergroßes Insekt kommt schnell auf mich zu. Ich greife abwehrend ins Leere. Meine Sinne haben mich erneut getäuscht. Direkt neben mir erwacht Dracula in seinem Sarg und schnellt mit der nächsten Wendung meines Kopfes mit gefletschten Zähnen nach oben.

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3dim-Dracula

Ich genieße den Rundgang, obwohl das Museum nicht sehr groß ist. Auf 3. Etagen führt mich mein Besuch an die Grenzen meiner visuellen Sinne. Bis zum Schielen verdrehe ich beide Augen, um das Hologramm im Sammelsurium der bunten Bilder und ihrer Muster zu erkennen. Ich fühle mich an meine Kindheit in den 90er Jahren erinnert. Die vielen farbigen Seiten der 3D-Bücherserie ‚Magisches Auge‘ waren voll von optischen Täuschungen. Schaute man lange genug eines der wirren Muster an, sah man plötzlich holografisch eine Figur in 3D, die sich aus dem Bild erhob. Es fällt mir ziemlich schwer die dreidimensionale Szenerie zu finden. Als Kind fiel mir das unendlich leicht. Ich stelle mich in einem angenehmen Abstand vor das chaotische Farbschema und blicke angestrengt darauf. Nichts passiert. Die Übung hat mich seit über 20 Jahren verlassen. Enttäuscht lasse ich beide Schultern hängen. Ich atme langsam aus. Noch bin ich nicht gewillt aufzugeben. Ich trete so dicht es mir erlaubt ist vor das verworrene Farbspiel und mache langsam einen Schritt zurück. Dann sehe ich die dargestellte Burg. Schemenhaft erhebt diese sich aus der bunten Farbpalette. Ein Vogel kreist verloren um die Turmspitze.

levis

magiceye

Eine Treppe führt mich die nächste Etage hinauf. Ich spaziere an mehreren Wackelbildern vorbei. Diese Abbildungen nennt man auch Prismenraster. Sie bestehen aus zwei hin- und herspringenden verschiedenen Bildern. Je nachdem wie man den Kopf bewegt ergeben diese ein bewegtes Bild. Die junge Japanerin mir gegenüber zwinkert mir kontinuierlich aufmunternd zu. Fast als wollte sie mir ein todsicheres Geschäft oder unmoralisches Angebot vorschlagen. Im selben Stockwerk befinden sich Anamorphosen. Diese Zeichnungen sind geometrisch verzerrte Grafiken oder Formen. Nur durch eine Reflektion in einem Spiegel können diese Darstellungen entschlüsselt werden. Während der Renaissance nutze man diesen Typ der optischen Täuschung häufig um geheime oder anstößige Inhalte zu transportieren. Ich spaziere zu einer Gruppe Verxierbilder. In diesen Zeichnungen sind immer zwei verschiedene Motive versteckt. Ganz bekannt sind je nach Blick auf die Illustration das Entdecken entweder einer jungen Frau oder einer Greisin. Im Bildwerk vor mir gehen die zwei Brüste einer jungen Dame je in einem Männerkopf über. Die weiblichen Rundungen gehören damit auch zu den beiden Herren.

ZylinA

DaVinci

Erstaunlich wie sehr sich unser menschliches Gehirn täuschen lässt. Oder Täuschungen versucht in normale geometrische Begebenheiten zu pressen, um uns nicht zu überfordern. Die menschliche Fähigkeit dreidimensionale Motive in ein plastisches Ergebnis zu leiten ist faszinierend. Doch nach fast zwei Stunden ist mein Denkapparat völlig überfordert. Eine einfaches schwarzes Holzrad, auf der nichts als eine schwarze runde Scheibe aufgemalt ist, wird zur Spirale sobald man es in Bewegung setzt. Einfache Bilder werden durch die 3D-Brille plötzlich lebendig und dreidimensional. Die grafische Explosion der Ausstellungsstücke macht mich schwindelig. Kein Wunder, dass der Museumsgründer Gerhard Stief, ein Frankfurter Designer ist. Der Hang zum künstlerischen Werk ist auf jedem Stockwerk spürbar. Mit verdrehten Sinnen stolpere ich auf die Kopfsteingassen von Dinkelsbühls Altstadt. Ein letzter ruheloser Blick geht zur unmöglichen Figur eines Dreiecks im Vorgarten des Museums. Dann tragen mich unsichere Schritte davon. Die schmerzenden Augen werde ich mit einem Espresso in einem der zahlreichen Straßencafes wieder stärken.


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