Der buckelige Glöckner

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Hektisch presst sich die Kuppe meines Zeigefingers mehrmals auf den Auslöser auf meinem Handydisplay. Starr und reglos umrunden die schwarzen Engel in einem regelmäßigen Halbkreis den Altar. Die Figuren wirken wie aus glänzendem Metall und versprühen eine düstere Schwere, die kalt in meine Glieder zieht. Ich schlage den Kragen nach meiner Jacke nach oben. Mahnend erhebt sich die rechte Hand des Priesters, der kurz zuvor noch den Gottesdienst geleitet hat. ‚Hier darf man nicht fotografieren. Gehen Sie bitte.‘ sein Ton klingt nachsichtig und überhaupt nicht wie ein Befehl oder eine Order. Er muss mich auch nicht weiter überzeugen. Ich habe meine Fotos ja machen können. Eigentlich bin ich froh die Düsternis der grauen Gesteinsfassade von Notre Dame in Paris hinter mir zu lassen. Gefärbt vom Rauch der vielen Kerzen und der Witterung der Zeit sind die Mauern ergraut, an manchen Stellen ebenso dunkel wie die still wachenden Engel am Altar. Die Geschichte und Ereignisse der letzten Jahrhunderte haben dem gotischen Gemäuer jede positive Atmosphäre geraubt. Dennoch ist die Kirche eines der bekanntesten Bauwerke in Paris. Dient diese doch als Kulisse für eine der schönsten Erzählungen, die in der französischen Hauptstadt spielen. Die Geschichte des ‚Glöckners von Notre Dame‘ kennt schließlich jeder.

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Von Kronleuchtern und Kerzen spärlich erhellt ist die Zeit innerhalb der Kirchenmauern stehen geblieben. Vergangenes und Gegenwärtiges mischen sich mit den ungemütlichen Tönen der Orgel zu einem Mix aus Wunsch und Wirklichkeit. Dumpf und gleichmäßig hallen die schweren Glockenschläge über den Kirchplatz. Die im Turmgebälk hängenden Bronzeungetüme wurden zum 850-jährigen Bestehen der Kathedrale im Jahr 2013 komplett erneuert. Die finstere Stimmung innerhalb der steinernen Mauern schluckt jegliches Licht, das durch die bunten Mosaiken der Glasfenster fällt. Eine mulmige Tristesse bleibt zurück und weht als eiskalter Windhauch durch die schmalen Gänge entlang der Kirchenbänke. Ich lege den Kopf in den Nacken und mustere die vielen Treppenstufen, die sich in den Höhen der Seitenschiffe nahe der Kirchendecke unscharf für mich abzeichnen. Einen buckligen Schatten sehe ich trotz aller Neugier und Anstrengung nicht. Ich bin auf der Suche nach Quasimodo, der im Glockenturm von Notre Dame lebt. Zumindest in der ursprünglichen Erzählung von Victor Hugo. Der Name „Quasimodo“ leitet sich vom lateinischen Quasimodogeniti ab, dem Weißen Sonntag. Das ist der erste Sonntag nach Ostern. Im Roman wird der kleine verkrüppelte und entstellte Bucklige an eben diesem Tag auf den Eingangstreppen der französischen Kathedrale gefunden.

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Erzdiakon Frollo findet das Bündel im Vorhof der Kirche und nimmt das missgestaltete Kind in die Kirchenmauern auf. Quasimodos Aufgabe wird es die Glocken zu läuten. Durch deren Lautstärke hat er bald jegliche Fähigkeit zu Hören verloren. Während des ‚Fests der Narren‘ in Paris sieht der taube Bucklige die schöne Zigeunerin Esmeralda zum ersten Mal Tanzen. Er verliebt sich unsterblich in sie. Leider ist auch Priester Frollo ihr absolut verfallen. Er ersticht die wirkliche Liebe der jungen Frau, den Hauptmann Phöbus, auf hinterhältige Art und Weise. Frollo gibt Esmeralda die Schuld und will diese vor Notre Dame aufhängen lassen. Quasimodo rettet die Zigeunerin vor der Hinrichtung und versteckt sie in der Kirche. Aber auch das Kirchenasyl kann sie nicht schützen, die Kathedrale wird gestürmt. Frollo bedrängt Esmeralda ein letztes Mal, seine Liebe zu erwidern, aber sie verweigert sich ihm erneut. Der Priester liefert sie darauf dem Galgen aus und wird von seinem buckligen Mündel aus Rache vom Kirchenturm gestürzt. Am Grab seiner Liebe stirbt Quasimodo dann an gebrochenem Herzen.

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Vieles deutet darauf hin, dass der Schriftsteller Victor Hugo den Glöckner einer realen Person nachempfunden hat. Die Tagebücher des Bildhauers Henry Sibson berichten von einem Steinmetz-Kollegen, der lediglich ‚der Bucklige‘ genannt wurde. Dieser Mann diente wahrscheinlich als Vorbild für Quasimodo. Anfang des 19. Jhds half er die  während der Revolution beschädigte Kathedrale Notre-Dame zu renovieren. Den Namen des Buckligen kennt man allerdings bisher noch nicht. Sibson beschreibt ihn als Eigenbrödler und Mensch, der sich nicht gerne unter die anderen Handwerker mischte. Diese Äußerungen Sibsons, der 1870 starb, stammen aus seiner Autobiographie. Sie wurde 1999 in einem Haus im südenglischen Penzance gefunden. Die Tate Gallery kaufte die Schriftstücke damals. Doch erst jetzt hatte man die sieben Bände so weit katalogisiert, dass die Verbindung zu Hugos Roman auffiel. Wie der Schriftsteller wohnten auch Sibson und seine Steinmetzkollegen in den 1820er Jahren im sechsten Arrondissement von Paris, da sich dort deren Atelier befand. Bevor Hugo seinen Roman 1831 beendete, besuchte er oft die Baustelle von Notre Dame und sprach dort mit den Arbeitern, die Schäden an der Kirche beseitigten.

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Ich kann mir kaum vorstellen, was damals eine solche Behinderung oder Entstellung für das eigene Leben bedeutete. Eine völliger Ausschluss aus der aktiven Teilnahme am sozialen Leben. Eine Meidung durch alle gesellschaftlichen Schichten, sowie ständige Beschimpfungen und Verhöhnungen der eigenen sonderbaren Hässlichkeit in der Öffentlichkeit. Die emotionale Zumutung nie Liebe oder Zuneigung zu erfahren. Das permanente Gaffen der Menschenmassen, die dem ereignislosen, langweiligen Alltag dadurch entgehen wollten. Empfindungen von Abscheu gemischt mit Neugier auf der angeekelten Mimik der Gesichter. Auch heute würde Quasimodo niemand lieben wollen. Selbst wenn ein Sprichwort sagt, dass nur die inneren Werte zählen. Zumindest hätten die meisten Menschen aber keine Scheu im Umgang mit ihm. Behinderte sind bei uns zum Glück nicht mehr geächtet und Menschen mit Entstellungen werden nicht mehr stigmatisiert. Die Medizin ist auch viel fortschrittlicher und viele Missbildungen können vermieden werden. Neben den Abgründen menschlicher Charakterschwäche und gedankenloser Äußerungen zeigt die Geschichte von Victor Hugo allerdings zwei Dinge in aller Deutlichkeit. In jeder guten Geschichte ist neben wahren Fakten auch künstlerische Freiheit enthalten. Und die besondere Schönheit der inneren Wärme und Menschlichkeit kann man auch mit verzerrtem, schrecklichem Antlitz erwerben. Die findet nämlich ein jeder wenn er möchte in sich selbst.

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