Mein Blick schweift über die vielen Rollstühle. Schwarze Metallgestelle mit azurblauen Sitzkissen. Welche Schicksale sich dahinter verbergen lässt sich nicht erahnen. Das COPE Visitor Center in der laotischen Hauptstadt Vientiane hilft den Menschen, die in Laos Opfer von Blindgängerbomben werden. Die Organisation bietet kostenlose Rehabilitationsmassnahmen und Prothesen für die ärmere Bevölkerungsschicht, die sich keine angemessene Versorgung leisten kann. COPE gibt es schon seit 1963. Die Organisation bildet sogar Einheimische im Anfertigen von Prothesen und Orthesen aus. Der Verband lebt allein von Spenden. Der Eintritt in die angegliederte Ausstellung ist kostenlos. Eine finanzielle Zuwendung wird natürlich für das Projekt erbeten. Neugierig blicke ich auf die vielen verschiedenen künstlichen Körperteile. Irgendwie wirken diese surreal und skurril. Wie stumme Zeugen von schweren Schicksalsschlägen, aber auch Bringer neuer Hoffnung, den eigenen Alltag wieder selbstständig bewältigen zu können. Traurig und schwermütig betrachte ich die zierliche Beinprothese eines Kindes.
Laos ist das am meisten bombardierte Land der Erde. Die USA hat hier während des Vietnamkrieges in den Grenzgebieten 580.000 Bombenmissionen abgeworfen. Das bedeutet etwa eine Mission alle 8 Minuten, 24 Stunden am Tag, über einen Zeitraum von 9 Jahren. Mehr als 2.000.000 Tonnen Munition fielen auf laotischen Boden. Etwa 270.000.000 Bomben von denen 30% bis heute nicht detoniert sind. Dies bedeutet, dass etwa 80 Millionen nicht explodierte Bomben in der laotischen Erde liegen. 25% aller Ortschaften sind immer noch durch Blindgänger verseucht. Alle 17 laotischen Provinzen leiden unter der Kontaminierung von nicht explodierten Sprengkörpern, darunter 41 der 46 ärmsten Distrikte. Mehr als 50.000 Menschen wurden dadurch von 1964 bis 2011 verletzt. 13.500 davon haben ein Körperteil verloren, etwa 40% sind Kinder. Inzwischen ereignen sich jährlich noch etwa 100 Bombenunglücke. Viele Menschen fallen den Blindgängern zum Opfer während sie nach brauchbarem Schrott suchen. Kinder halten die kleinen runden Kugeln oft für Spielzeug. Reisbauern hacken darauf während sie ihre Felder bewirtschaften. Aber auch Kochen oder ein Feuer in der Nähe eines nicht geplatzten Sprengkörpers bringt diesen zum Bersten.
Die Einwohner der ländlichen Gegenden in Laos sind es gewohnt Essen und Baumaterial im Wald um ihr Dorf zu sammeln. Oftmals nehmen diese dann das Metall der nicht explodierten Bomben als Werkstoff mit. Gerade bei Kindern siegt die Neugier oder der Wunsch etwas Wertvolles mit nach Hause zu bringen, sodass diese die Blindgänger auflesen. Um die bisher nicht entdeckte Munition zu finden, wird der Boden der betroffenen Gebiete systematisch und nach nationaler Priorität gegliedert durchsucht. Jeden Tag beschäftigen sich 3.000 Männer und Frauen mit der Säuberung des gefährlichen Areals. Sie orten und zerstören täglich hunderte Streumunitionen und andere gefährliche Bombenüberreste. Streu- oder Clustermunition heißen Granaten, die nicht als Ganzes explodieren, sondern eine Vielzahl kleinerer Sprengkörper freisetzen. Normalerweise detoniert ein großer Teil dieser Munition nicht, sondern verbleibt als Blindgänger an der Abwurfstelle. Wegen ihrer geringen Größe sind diese Bomben schwer auffindbar. Seit 1. August 2010 wurde im völkerrechtlichen Vertrag ‚Übereinkommen über Streumunition‘ der Einsatz dieser Geschosse verboten. Laos war das zweite Land, welches diesen Entwurf nach der Erstellung unterzeichnet hat.
Um die kontaminierten Gebiete zu finden befragen die Bombensucher zuerst die Bevölkerung und halten sich an historische Aufzeichnungen aus Kriegszeiten. Die vermuteten Bezugspunkte werden auf einer Karte eingetragen und die Suche nach der Streumunition kann beginnen. Das zu säubernde Gebiet wird in Parzellen von 50 auf 50m eingeteilt und mit Metalldetektoren abgesucht. Bis zu einer Tiefe von mindestens 25cm vernichten die Suchteams die aufgestöberten Blindgänger direkt an Ort und Stelle. Unzählige Bomben müssen noch gefunden werden. Die Reinigung von Laos wird noch eine Weile andauern. Die Gefahr ist allgegenwärtig. Viele laotische Farmerfamilien kochen am offenen Holzfeuer. Befinden sich Sprengkörper in der Nähe können diese durch das Erhitzen der Erde explodieren. Die Einheimischen werden dadurch schwer verletzt und oft bleiben Schrapnellstücke in den Körpern der Menschen zurück. Viele Laoten, insbesondere Kinder, sammeln die Bombenteile für den Schrotthandel, obwohl dieser eigentlich verboten ist. Die Beteiligten kommen aus ärmlichen Verhältnissen und benutzen für die Suche primitive Metalldetektoren für 10 Dollar aus Vietnam oder einfache Schaufeln. Damit durch die Reisfelder und Wälder zu wandern ist oft lebensgefährlich. Umgerechnet 1-2 Euro erhalten die Sucher für ein Kilo Schrott. In Laos ist dies genug Geld um das Risiko einer Verkrüppelung oder den Tod auf sich zu nehmen. 24% aller Unfälle durch nicht detonierte Munition gehen auf das Stöbern nach Altmetall zurück. Menschen sind gegen geringe Bezahlung bereit, dieses gefährliche Gut zu kaufen und zu verkaufen. Dem ist auch nicht durch Vorschriften beizukommen.
Viele Laoten, die Gliedmassen durch Blindgänger verloren haben, wissen nicht, dass es so eine Organisation wie COPE gibt. Sie finden selbst Wege und Möglichkeiten, um ihren Alltag nach einer Amputation wieder bewältigen zu können. Ironischerweise bauen sie sich oft Prothesen aus Holz und Schrapnell. Solche Ersatzbeine und -arme halten nicht sehr lange und sind für den Träger sehr unbequem. Die von COPE angebotenen künstlichen Gliedmaßen sind aus Polypropylen. Mit Körperteilen aus diesem Stoff ist es den Betroffenen möglich wieder am aktiven Leben teilzunehmen. Durch Unterstützung von Leder, Harz und Aluminiumteilen werden in den COPE Rehabilitationszentren des Landes Prothesen hergestellt. Die Rohstoffe hierzu werden hauptsächlich durch das Recyclen von Abfallprodukten gewonnen. Aus einer Low-Cost Produktion entsteht so ein High-Tech Ersatzteil. Ein gut angepasster Sitz ist dabei wichtig um Wunden durch Druckstellen zu vermeiden. Viele Menschen sind durch selbst gebastelten, schlecht sitzenden Gliedersatz lange Zeit einer schlechten Haltung und starken Schmerzen ausgesetzt. Daher bildet COPE selbst Personal in der Herstellung von synthetischen Gliedern ausaus und kontrolliert immer wieder den Sitz und die Qualität der erstellten Teile.
Das Visitor Center, das über die Arbeit von COPE informiert, wurde im August 2007 gebaut. Das Gebäude, in dem die Ausstellung besucht werden kann, war ursprünglich ein Lager. Im letzten Jahr besichtigten 17.000 Touristen das Museum. Die Unterstützung, die COPE leistet ist für die Laoten lebensbejahend. Einheimische, die sich keine Behandlung und Reha leisten können, erhalten diese hier umsonst. Die Organisation übernimmt auch die Transportkosten, damit jeder Patient die Klinik erreichen kann. Ebenso stellt sie die Unterkünfte und tägliche Verpflegung für die Bombenopfer und deren Familien zur Verfügung. Nach der Amputation eines Körperglieds besucht der Kranke zunächst einen Physiotherapeuten. Dieser versucht zusammen mit dem Patienten durch gezielte Übungen die Muskelfunktion und Koordination weitgehend zu erhalten. Danach wird die entsprechende Stelle vermessen und ein Negativabdruck erstellt, der mit Gips aufgegossen wird. Hieraus wird dann die Form gefertigt, die mit Polypropylen gefüllt wird. Der Patient lernt dann in der Klinik mit seiner Prothese zu laufen. Während seines Aufenthalts bei COPE wird das neue Körperteil immer wieder angepasst bis es ganz genau sitzt.
In 5 Rehabilitationszentren, die über Laos verteilt sind, können sich die Einheimischen und auch frühere Patienten von COPE jeden Dienstag und Donnerstag untersuchen lassen. Wichtige Entscheidungen über die ideale Behandlung jedes Unfallopfers werden im kompletten Ärzteteam besprochen und entschieden. Neben den Betroffenen von explodierenden Blindgängern kümmert sich die Organisation auch um Verkrüppelungen durch Krankheiten, Gendefekte oder Verkehrsunfälle. Viele der durch Bomben Gepeinigten nehmen nach ihrer Reha selbst die Arbeit bei COPE auf. Sie erhalten dadurch eine sinnvolle Aufgabe in ihrem Leben und geben die Unterstützung, die sie selbst erhalten haben, an andere Menschen weiter. Jeden Tag werden hier Existenzen gerettet, die Verkrüppelungen erlitten haben. Die daraus resultierenden Arbeitsausfälle können die betroffenen Familien lebensbedrohlich in den Ruin treiben. Der Krieg liegt nun 40 Jahre zurück und dennoch leidet Laos immer noch stark unter dessen Vermächtnis. Bis die letzten versteckten Streumunitionen gefunden und zerstört werden gehen die Reisbauern in den kontaminierten Gebieten in ständiger Furcht ihrer Arbeit nach. Die Laoten machen sich Sorgen um ihre spielenden Kinder. Und jede Frau schwebt in Lebensgefahr, die ein offenes Feuer zum Kochen anzündet. Ich kaufe einen Schlüsselanhänger, an dessen Ende eine zierliche Figur mit Prothesen in Form von Reißzwecken schwebt. Meine Unterstützung ist Laos gewiss.