Ich öffne die Augen. Ein Wimpernschlag macht mich hellwach. Es ist erst 3 Uhr am Morgen. Mein ganzer Körper quält sich durch den Jetlag. Jede Faser fragt sich, warum ich unbedingt weiterschlafen muss, wenn ich doch schon den ganzen Mittag verpennt habe. In Karlsruhe ist es gerade mal 21 Uhr und ich liege schon seit mehreren Stunden im Bett. Unruhig drehe ich mich von einer Seite auf die andere bis das Herumwälzen einfach nur noch nervt. Ich schwinge die Füße aus dem Bett und wackle mit den nackten Zehen. Nachdem mich der Dreck und Staub in Bangkoks Stadtgürtel nach meiner Ankunft gestern absolut negativ überwältigt hatte, suche ich heute erholsame Stunden auf dem Land. Ich hatte einen Ausflug nach Ayutthaya gebucht, die alte Hauptstadt Thailands. Auf der Suche nach richtigem Kaffee aus Bohnen ziehe ich die Tür meiner Unterkunft auf. Selbst in der Nacht stinkt Bangkok noch. Der Smog und Abgasgeruch des Tages mischt sich mit der steigenden Luftfeuchtigkeit und hinterlässt einen abgestandenen Geruch in den Straßen. Fast so als hätte man eine riesige Ladung Wäsche zu lange in der Waschmaschine zurückgelassen. Träge wogt das fade Aroma durch die Gassen und zieht sich als unangenehmer aromatischer Dunst wie eine neblige, übelriechende Schlinge um meinen Hals.
Ich halte die Luft an solange bis ich mit meinem Kaffee wieder in der Kühle der klimatisierten Rezeption angekommen bin. Gleichmäßig und langsam atme ich dann aus. Der Minivan des Reiseveranstalters verspätet sich um 45 Minuten. Nervös stehe ich bereits in der Tür und blicke unruhig auf den vorbeifahrenden Verkehr. Zu dieser morgendlichen Stunde ist der Stau durch die Innenstadt, der in der Rush Hour alles lahmt legt, ein nicht vorstellbares Hirngespinst, eine ungeheure Utopie. Ganz vereinzelt ziehen Autos vorbei. Der Fahrer des Kleinbusses, der mich abholt, grinst mich freundlich an. Geduld gehört im Land des Lächelns und der Achtsamkeit einfach dazu. Hier läuft der Alltag viel gelassener ab. Kommt man 40 Minuten spät, dann ist das eben so. Das thailändische Zeitempfinden ist nicht mit dem deutschen vergleichbar. Und es tut mir ja auch gut, meine westliche Ungeduld über Bord zu werfen und mich in die ruhige Gelassenheit meines Urlaubslandes zu vertiefen. Im Kontrast zu meinen momentanen Gedanken fährt der Fahrer des Vans sobald die Tür hinter mir zugezogen wurde, was das Zeug hält. Bei jedem Schlagloch schwebe ich kurz in der Luft über meinem Sitzplatz. Nur um sogleich mit aller Wucht wieder auf das abgenutzte Lederpolster zu fallen. Zur Sicherheit schnalle ich mich an und schließe vorsichtig den Gurt.
Beim Blick aus dem fenster frage ich mich, welche Funktion hier Zebrastreifen haben. Selbst die Einheimischen überqueren an diesen nur schnell rennend die Straße. Einfach darüber zu laufen in dem Vertrauen, dass die Autofahrer bremsen (so wie ich das in Süd- und Zentralamerika praktiziere) kann hier tödlich enden. Ayutthaya ist das Gegenstück zu Bangkok. Leise und unaufgeregt säumen die Ruinen der alten Königsstadt die Ufer der Insel, die durch die umliegenden Flüsse gebildet wird. Rund 400 Jahre lang war dies die Hauptstadt des Königreichs Siam. Bis die Stadt im April 1767 von den Burmesen nach 14-monatiger Belagerung erobert, geplündert und fast völlig zerstört worden ist. Nach der verheerenden Niederlage gründete König Rama I. nur 80 Kilometer entfernt die neue Hauptstadt Bangkok. 33 Könige haben von Ayutthaya aus das Land beherrscht und die Stadt früher zu unglaublichem Wohlstand geführt.
Mit über einer Million Einwohner war die Stadt zu ihrer Blütezeit eine Metropole wie heute London. Ayutthaya war das weltoffene Handelszentrum mitten in Asien. Heute sind die Ruinen zerfallen, viele der 375 Tempel der Stadt sind zerstört. Von den meisten Gebäuden stehen nur noch die kargen Grundmauern. Seit 1991 steht das gesamte Areal unter UNESCO Welterbe. Nachdenklichkeit und Stille liegt über den grasbewachsenen Feldern. Stumm ragen Pagoden und Stulpas in die Höhe wie ruhige, sprachlose Zeitzeugen der Geschichte. Eine kühle Brise weht über die heißen Steine und lindert die Schmerzen, die sich durch die Glut der Sonnenstrahlen in meine Haut brennt. Diese geschichtsträchtige Stätte fordert einen Spaziergang mit Gemächlichkeit und ohne Hektik. So bewege ich mich dann auch fort. Meine Hände befühlen die erhitzten Steine und betrachten die von der Witterung geschwärzten steinernen Buddhastatuen. Der Verfall ist hier allgegenwärtig, passt aber zur Atmosphäre.
‚Wo ist mein Bus?‘ frage ich unsere junge thailändische Reiseführerin und recke hektisch den Kopf, da ich den Fahrer noch den passenden Van irgendwo sehe. Wurde ich vergessen? Der Kleinbus ist tatsächlich einfach weggefahren. Die zierliche Thailänderin winkt mich in einen anderen Minivan und deutet auf einen freien Sitz. Der wird aber nach wenigen Minuten von einer blasen Frau beansprucht. ‚Entschuldigung, das ist mein Platz.‘ die Dame hat einen gebrochenen englischen Akzent. Ich steige also wieder aus. Zum Glück findet sich noch ein verfügbarer Sitzplatz, die Tempel sind viel zu weit auseinander, um zu laufen. ‚Du musst Dir die Nummer Deines Vans merken!‘ belehrt mich unsere Reiseleitung. Dies leuchtet mir nicht ein. Wenn der Kleinbus einfach wegfährt, was sollte mir dies dann bringen? Wir halten vor dem nächsten Tempel.
Die Ruinen haben eine beruhigende Wirkung auf mich. Wenige Touristen sind außer unserer Reisegruppe unterwegs. Liebevoll spielt der warme Windhauch mit den grünen Blättern der Bäume, die vereinzelt zwischen den Ruinen stehen. Die Millionenstadt von damals ist in einen immer währenden Schlaf gefallen. Die Stille ist angenehm zu ertragen, ich fühle mich auf wunderbare Weise isoliert. Sanft überträgt sich die wunderbare Einsamkeit auf mein hektisches Gemüt. Die Ruhe der Natur ist hier allgegenwärtig. Die Pflanzen suchen sich ihren Weg. Vor mir ragt ein Buddhakopf aus einem thailändischen Banyan-Baum. Der Baum ist heilig und steht in seiner Gesamtheit für das Leben. Und hier ist noch ein ganzer Nachmittag übrig, um sich von dem Moloch Bangkok zu erholen.