‚Blöder Mist.‘ Fluchend stehe ich auf Budapests Burgberg vor dem Fahrerfenster meines kleinen VW und ziehe mit beiden Händen die Scheibe hoch. Um mich rieseln leichte Schneeflocken und tanzen in der hellen Mittagssonne. Im monotonen Nachhall meiner klappernden Zähne segeln die Eiskristalle durch das geöffnete Fenster auf das Polster des Fahrersitzes. Wie ein Mosaik aus klirrender Kälte überziehen sie den schwarzen Stoff mit einem feinen Film aus feuchter Kälte. Endlich bewegt sich das Fenster und meine klamm gefrorenen Finger schieben die Scheibe Stück für Stück nach oben. Erschöpft sinke ich auf den Sitz und ziehe die Tür zu. An der Schranke zum Parkplatz von Budapests Burg hatte der Schließmechanismus des Fahrerfensters versagt. Ausgerechnet auf dem höchsten Punkt der ungarischen Hauptstadt und bei eisiger Kälte mitten im Winter.
Die königliche Residenz überragt die Millionenstadt als das höchstgelegene Gebäude und ist von allen Richtungen in seinen ganzen Ausmaßen gut zu erkennen. Langsam fahre ich den Burgberg herab. Budapest entstand 1873 durch die Zusammenlegung der zuvor selbstständigen Städte Buda, Óbuda und Pest. Dadurch schlängelt sich die gesamte Stadt zu beiden Ufern der Donau hin und ist durch neun Brücken verbunden. Wie ein blaues Band durchströmt der breite Fluss die große Stadt und spiegelt die von ihm durchtrennten Stadtteile in der dunklen Wasseroberfläche wieder. Die Donau ist die eigentliche Hauptattraktion Budapests, plätschert doch ihr langsames Fließen zu den alltäglichen Geräuschen der Großstadt dahin. Das wunderschöne Winterpanorama folgt mir auf meiner Fahrt ins Tal wie der Auftakt zu einem russischen Märchen. Väterchen Frost zaubert einen gehauchten Teppich aus Raureif auf die Straßen und Dächer der Metropole.
Die schönsten Bauwerke der Stadt liegen direkt an den Ufern der Donau. Das Budaer Burgviertel ist Teil des UNESCO Welterbes. Am östlichen Donauufer, auf der flachen Pester Seite, erheben sich das Parlamentsgebäude, die Akademie der Wissenschaften, eine Reihe großer Hotels am so genannten Donaukorso, die Pester Redoute (ein Ballsaal), die Corvinus-Wirtschaftsuniversität Budapest und weiter südlich das Nationaltheater sowie der Kunstpalast. Alles lässt sich in einem gemütlichen Stadtspaziergang erkunden. Was auffällt ist die Armut. An einer roten Ampel in der Innenstadt halte ich an. Das Schwenken der Metalldosen von bettelnden Menschen begleitet kontinuierlich meine Parkplatzsuche. Menschen auf Krücken und in zerrissenen Kleidern klopfen an meine Autotür. Die Blechbüchse schwenkend bitten sie stumm und mit flehendem Blick um einen Almosen. Bettler mit fehlenden Gliedmaßen sitzen an den Straßenecken, die Hände hilflos den Passanten entgegen gestreckt.
Wieder einmal wird mir klar, welch Privileg es ist in einem Land mit sozialer Absicherung und funktionierendem Gesundheitssystem zu leben. Dieses Glück nehmen wir als viel zu selbstverständlich hin, denn weltweiter Standard ist dies nicht. Eine alte Frau deutet auf die leere Pfandflasche in meiner Hand. Ihr runzliges Gesicht ist überzogen von den tiefen Furchen ihrer bewegten Lebensgeschichte. Mit dankbarem Blick aus den vom Leben gezeichneten müden Augen nimmt sie die Flasche aus meiner Hand. Schlurfenden Schrittes geht sie langsam weiter. Sie durchsucht die Mülleimer am Straßenrand und hofft das sie weitere Pfandflaschen findet. Ungarn liegt bei der Armutsquote auf gleichem Niveau mit Rumänien oder Bulgarien. Die Regierung tut nichts dagegen und bestreitet die ansteigende Armut sogar. Als Land der billigen Arbeitskräfte werden die Menschen ausgenutzt. Die Kluft zwischen Arm und Reich wächst. Wenn wir an arme Menschen denken, sehen wir in Gedanken die armen Kinder in Afrika. Die vom Hunger aufgeblähten Bäuche in den armen Gegenden der Karibik. Um Armut zu spüren muss man mit seinen Gedanken gar nicht so weit wandern. Ungarn ist nur durch Österreich von Deutschland getrennt. Vielleicht sollten wir uns das mal bewusst machen.