Über den Gräbern der Namenlosen weht eine leichte Brise. Unter dem stetigen Wind biegen sich die spärlichen Grashalme und schwingen die grünen Efeublätter. Blumen wachsen auf keiner der Begräbnisstätten. Kein bunter Hauch legt sich über die letzten Ruhestätten. Die einsame Tristesse verstärkt die Anonymität. Mein Blick ruht auf den einfachen, verwitterten Holzkreuzen ohne Namen. Ich frage mich, welche Schicksale und Geschichten hier verborgen sind. Welche Tragödien die Verstorbenen hierher gebracht haben. Der ganze Ort scheint mir so einsam und öde. Ein Schleier der Trauer legt sich auf mein Gesicht. Dabei kenne ich keinen der hier Begrabenen. Genauso wie auch niemand auf diesem Eiland sonst. Ich stehe in Nebel, dem größten Ort der Insel Amrum, auf dem Friedhof der Namenlosen. Unter den simplen Holzkreuzen liegen jene Ertrunkenen begraben, die von den Wellen an den Strand gespült und nie identifiziert wurden. Im Meer fanden diese einen kalten, hoffnungslosen Tod.
Die Bewohner des Dorfes wollten aber auch den anonymen Toten eine ordentliche Bestattung ermöglichen. Da die meisten Einwohner vom Fischfang lebten hätte es sie genauso gut selbst treffen können. Eine Bestattung der Gestrandeten auf dem christlichen Kirchhof war nicht möglich. Glaube und Herkunft der Verstorbenen waren ja nicht bekannt. Für die unbekannten Strandleichen wurde daher 1906 der Friedhof der Namenlosen gegründet. Die letzte Beerdigung fand 1969 statt. Danach war die Wissenschaft soweit, dass auch unkenntliche Leichen identifiziert werden konnten. Der Begräbnisplatz wurde dann nicht mehr benötigt. Er wird trotzdem als Ort der Erinnerung gepflegt und bewahrt. 32 angeschwemmte Menschen liegen hier. Von Ihnen ist nur der Tag ihres Fundes am Strand bekannt. Niemand weiß, wer sie einst waren. Ich gehe durch das kleine Holztor mit der Aufschrift ‚Es ist noch Ruhe vorhanden.‘ und lasse die Traurigkeit dieses Ortes hinter mir zurück.
Nebel ist das älteste Dorf Amrums. Kopfsteingepflasterte Gassen durchziehen den überschaubaren Ort. Die Menschen wohnen in reetgedeckten, roten Backsteinhäusern. Cafés, Restaurants und kleine Läden reihen sich in der zierlichen Innenstadt aneinander und verströmen eine gemütliche und heimelige Atmosphäre. Ich fühle mich sofort wohl. Langsam spaziere ich durch die schmalen Straßen bis hin zur denkmalgeschützten Mühle aus dem 18. Jhd. Die Szenerie mutet wie eine Spielzeugwelt an, so idyllisch und perfekt empfinde ich die Umgebung. Fast wie bei einer aufgebauten Kinderspieleisenbahn, bei der die Landschaft täuschend echt nachgeahmt ist. Ein Bus bringt mich zurück nach Wittdün. Die Fähren zur Nachbarinsel Föhr legen hier ab. Amrum ist die viertgrößte nordfriesische Insel. Ich schlendere durch die bunte Einkaufsstraße zur Anlegestelle. Möwen kreisen mit ausholenden Flügelschlägen über den Wellen dahin. Die Dezembersonne strahlt weißgolden im azurblauen Himmel. In der Ferne blitzt der Leuchtturm Wittdüns auf wie eine langgezogene Zuckerstange.
Gelassen falle ich auf den Plastiksitz der Fähre. Die Dünenlandschaft Amrums wird in der Fensterscheibe immer kleiner. Bald sehen auch die darüber kreisenden Seemöwen wie winzige Miniaturvögel aus. Mein Schiff schippert an einer Sandbank vorbei. Müde wälzen sich die Robben auf dem feuchten Grund. Gelangweilt blicken diese in meine Richtung. Ein Tier gähnt angeödet und ohne Interesse. Unser Boot macht auf die Seehunde keinen Eindruck. Wyk auf Föhr empfängt mich mit einem menschenleeren, kilometerlangen Sandstrand. Das milde Klima verleiht der Insel den Spitznamen ‚Friesische Karibik.‘ Warm fühlen sich die Wintersonnenstrahlen auf meinem Gesicht an. Kleine Leuchtpunkte tanzen aufblitzend auf meinen Wangen. Tief atme ich die frische, kühle Nordseeluft ein. Auf meinen Lippen schmecke ich das salzige Aroma des Meeres. Eine kalte Meeresbrise zaust in meinen Haaren und löst einzelne Strähnen aus meinem Zopf.
Föhr ist nur per Schiff oder Flugzeug zu erreichen, niemals auf dem Landweg. Diese angenehme Isolation überträgt sich auf mich. Entspannt setze ich gemütlich den ersten Schritt auf den eisernen Anlegesteg. Ich blicke auf die typischen reetgedeckten Friesenhäuser. Behaglich schlendere ich durch die verwinkelten Gässchen der Inselhauptstadt. Hier lässt es sich wunderbar flanieren. Und das ist in Wyk wohl auch die Hauptbeschäftigung. Der Strand ist an keinem Punkt der Insel weiter entfernt als 15 Minuten Fußweg. Dort kann man in einem von 4 Schlafstrandkörben übernachten. Im Sommer ist das bestimmt überaus romantisch, im Winter natürlich undenkbar. Mit einer Breite von 1,30 Metern und einer Länge von 2,40 Meter bieten die Schlafmöglichkeiten ausreichend Platz für zwei Erwachsene. Eine wind- und wasserdichte Plane lässt sich komplett über den Schlafenden schließen. Zusätzlich kann man den Sternenhimmel auch durch zwei kleine Fenster an den Seitenteilen des Strandkorbs beobachten.
Mit dem Bus fahre ich nach Süderende. Ich spaziere durch die Straßen des kleinen Dorfes bis zur St. Laurentii Kirche. Der Ort ist ein typisches Friesendorf. Diesem Gotteshaus ist der ‚Friedhof der sprechenden Steine‘ angeschlossen. Die Inschriften der Grabmäler berichten vom Familien- und Berufsleben oder von besonderen Ereignissen im Leben der Verstorbenen. Am bekanntesten ist der Grabstein des glücklichen Matthias. Der einzige Schmuck des Gedenkstein von Matthias Petersen ist ein rundes Relief, das wappenartig die Glücksgöttin Fortuna über einem schwimmenden Wal zeigt. Der Mann war ein erfolgreicher Walfänger. Die Inschrift berichtet vom Glück des 1706 Verstorbenen, 373 Wale in fünf Jahrzehnten erlegt zu haben. Matthias gelangte dadurch zu großem Wohlstand und bekam daher prompt den Spitznamen ‚der Glückliche‘.
Von Friedhöfen habe ich jetzt die Nase voll. Auch wenn die vielen alten Schriftzüge interessant sind und mich nachdenklich machen, brauche ich jetzt etwas Aufmunterung. Ich besuche den überschaubaren Weihnachtsmarkt von Wyk. Heiß rinnt der Glühwein durch meine Speiseröhre. Mein Lippen werden warm. Wie ein feiner Nebelhauch steht mein Atem vor meinem Gesicht. Jedes Ausatmen flüstert dem durchsichtigen Nebeltuch erneut zu. Ich nippe an meinem Glas. Mein Blick fällt auf die gleichmäßigen Baumalleen und die weihnachtlich beleuchteten Friesenhäuser. Was für ein Glück ich habe, dass ich diese Umgebung erleben darf. Die Tasse in meiner Hand verbrennt fast meine Finger. Ich nehme den nächsten Schluck. Die letzten Strahlen der Sonne bringen den flüssigen Wein zum Leuchten. Bald setzt die Dämmerung ein. Freundlich nickt ein Einheimischer mir zu. Ich hab ein Leben. Kaum zu ertragen!