Leben im Schatten des Zuckerhuts

‚Wir haben Spuren von Gefahrstoffen an Ihrem Koffer gefunden, können Sie das erklären?‘ Erstaunt reiße ich meine Augen auf und mustere die junge Londonerin vor mir mit verdutztem Blick. Wortlos schüttle ich den Kopf. ‚Nein.‘ sage ich leise. ‚Es ist eine nicht erlaubte Substanz wie TNT.‘ erklärt diese mir. Dann prasseln die Fragen auf mich ein. ‚Was tun Sie in London? Haben Sie Ihren Koffer aus den Augen gelassen? Wer saß neben Ihnen im Flugzeug? War Ihr Gepäck eine Zeit lang allein.‘ Ich kann ihr vor Schreck nicht ganz folgen. ‚ Ich hatte meinen Koffer immer im Blick. Nur als er in der Gepäckablage war hatte ich keine Sicht darauf.‘ meine Antwort kommt langsam. Ich kann meine Gedanken schlecht ordnen. In einem wilden Chaos explodieren die vielen Gesichter aus dem Flugzeug in meinem Kopf. ‚Ich weiß nicht mehr neben wem ich gesessen habe. Darauf habe ich überhaupt nicht geachtet.‘ sage ich schließlich. Der Flug nach London war so schnell vergangen, ich hatte keinen Kontakt zu meinen Mitreisenden gesucht.

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Mein Ziel ist Rio. Während dem 16-stündigen Flug nach Brasilien würde ich sicher mehr Interesse an meinem Sitznachbarn zeigen. Die Mitarbeiterin des Bodenpersonals mustert mich kritisch. Kapseln meiner Vitamine und Antihistaminika zum Abmildern meiner multiplen Allergien und Unverträglichkeiten werden von ihr geöffnet und mit Teststreifen auf Drogen untersucht. Natürlich findet die Frau nichts. ‚Wir brauchen eine Kontaktperson von Ihnen in Deutschland.‘ meint die junge Engländerin schließlich und gibt mir meinen Koffer zurück. Ich überlege. Meine Mutter kann so gut wie kein Englisch. Wahrscheinlich würde sie einer plötzlichen Herzattacke zum Opfer fallen, wenn sich jemand aus London nach ihrer Tochter erkundigt, die gerade alleine durch Brasilien reist. Ich entscheide mich für die Adresse meiner Schwester. Sie ist 5 Jahre jünger als ich und kommt mit einem potentiellen Herzinfarkt und der englischen Sprache definitiv besser klar. Zum Glück gibt es Geschwister.

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In Brasilien angekommen empfängt mich Lucio an der Rezeption meines Hotels. Sein schwarzes Haar reicht ihm bis zu den Ohren und den leichten Pony ziert eine dunkelgrau gefärbte Strähne. Wie in Deutschland hat hier ebenfalls der Trend eingesetzt sich die Haare in den Grauschattierungen unserer Großeltern zu färben. Zu den pechfarbenen Haaren Lucios bildet das ausgebleichte, neblige Grau  allerdings einen umso stärkeren Kontrast. Freundlich beantwortet er meine Fragen nach dem Weg zum Zuckerhut. Der Pão de Açúcar ist fast 400m hoch in Gestalt eines steil in den azurblauen Himmel ragenden Felsens direkt am tiefblauen Meer. Seinen Namen trägt er, da seine Form an einen Zuckerhut erinnert. Der grobschlächtige Granitblock ist eines der Wahrzeichen von Rio de Janeiro. Mit der Seilbahn schwebe ich bis auf den Gipfel. Der Ausblick auf die schäumenden Wellen, die sich temperamentvoll an der Bucht zu Füßen des Berges brechen ist atemberaubend. Die sprühenden Funken der weißen Gicht auf dem Atlantik werden immer winziger, je höher meine kleine Gondel kommt. Bald sind die am Rande der Wellen spielenden Kinder und auf den Wogen gleitenden Surfer so klein, als gehörten diese zum Zubehör einer Miniaturspielwelt.

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Der Zuckerhut ist bewachsen mit einem dichten Bambuswald, durch den schmale überschaubare Spazierwege führen. Ich entscheide mich für den erstbesten zierlichen Pfad und trete durch das dichte Grün in die Welt eines kleinen Regenwalds. Der Geruch an modrige Feuchtigkeit und die mittägliche Frische des auf den Blättern und Zweigen haftenden Taus dringt in meine Nase. Ich ziehe den angenehmen Geruch der nassen Erde und der wachsenden Natur tief ein. Durch die hoch aufragenden Büsche und Bäume, die mich umgeben fühle ich mich wie in einem Dschungel. Meine Hände streichen über die fremdartigen Pflanzen, die mich umgeben. Mit den Fingern betaste und fühle ich die fremdartigen Konturen des dunkelgrünen Blattwerks. Eine Horde kleiner Marmosetten rennt direkt vor mir zügig über den schmalen Sandweg. Neugierig fliegen mir die kindlichen, weißbraunen Affenköpfchen zu. Sie verweilen kurz auf dem sandigen Boden, um mich mit schief gelegtem Kopf zu betrachten. Im nächsten Moment sind die Zwergäffchen schon im saftiggrünen Dickicht des uns umgebenden Waldes verschwunden. Eine gleichmäßige, verblassende Spur der kurzen Pfötchen mit den spitzen Krallen bleibt im feuchten Sand zurück. Marmosetten leben in Gruppen von bis zu 15 Tieren, aber nur das dominante Weibchen innerhalb der Gemeinschaft pflanzt sich fort. Der Eisprung wird bei den untergeordneten weiblichen Tieren unterdrückt, diese können nicht schwanger werden. Was für eine einfache und geniale Verhütungsmethode.

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Schläfrig räkeln sich kleine Eidechsen in der Sonne und genießen die letzten wärmenden Strahlen. Der kleine schuppige Körper zuckt gelegentlich in der Hitze des Nachmittags, nur um dann wieder völlig reglos und starr zu erscheinen. Wie eine Statue, die täuschend echt anmuted. Eine Gondel bringt mich aus dem blühenden Bergparadies zurück zur Talstation. Ich schlendere den Strand der Copacabana entlang auf der Suche nach den Schönheiten Brasiliens. Die hübschen Mädchen, die so viele Postkarten Rios verzieren und in ihren Bikinis über die Sandstrände hüpfen. Wo sollte man diese finden, wenn nicht am bekanntesten Strandabschnitt Brasiliens? Ich werde bitter enttäuscht. Das Land hat massiv mit Übergewicht zu kämpfen, 50% der Brasilianer sind fettleibig. Adipositas droht hier ein Problem zu werden wie in den USA. Hatte Brasilien bisher den Ruf einer der Staaten mit den schönsten Frauen der Welt zu sein, fängt mein Blick dieses Gerücht keinesfalls ein. Sicher gibt es ein paar rassige Modelschönheiten hier, aber die dicke Bevölkerung ist in der Überzahl. Ich sehe eine Vielzahl von Mikrobikinis, die definitiv viel zu klein und zu knapp geschnitten für die Trägerinnen sind. Es gibt bin den Läden aber auch kaum große Größen. Wie sollen die dickeren Frauen da einen passenden Bikini finden? Zudem sind Gemüse und vitaminreiche Nahrung in Brasilien gegenüber Fast Food verhältnismäßig teuer.

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Daher ist selbst die arme Bevölkerungsschicht oft übergewichtig. Aufgrund der hohen Preise für Obst und Gemüse ernähren diese sich hauptsächlich aus Mehl und frittierten Gerichten. Inzwischen sterben jährlich mehr Menschen an den Folgen von Fettleibigkeit als an Unterernährung. Seit diesem Jahr gibt es sogar einen ‚Tag der dicken Menschen am Strand.‘ der mit Gruppendiskussionen über die Diskriminierung von übergewichtigen Menschen informieren will. Damit diese ohne blöde Bemerkungen und spöttische Blicke an die Strände gehen können und einfach dort akzeptiert werden. In diesem Sinne wandert mein Blick von den korpulenten Strandgästen zu den leise plätschernden Wellen. Langsam verschwindet die erste Hälfte der Sonne im Wasser des Atlantiks. Sie taucht das ruhig daliegende Meer in schimmernde Rot und Orangetöne. Das langsam treibende Wasser bringt die Farben in Bewegung. Wie ein sich stetig windendes, rötlichgoldenes Tuch fließen diese über den Horizont. Sanft berührt die erlöschende Glut der Abendsonne die Wasseroberfläche. Ihr Spiegelbild reflektiert sich im seichten blutroten Wellenteppich bis hin zur Grenze des Firmaments.

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Im Hostel unterhalte ich mich mit Lucio. ‚Es gibt viele dicke Brasilianer.‘ teile ich meine Eindrücke mit. ‚Das stimmt.‘ er streicht sich die graue Strähne aus der Stirn. ,Die Bevölkerung liebt süßes Essen. In unseren Kaffee füllen wir die Hälfte des Bechers in Zucker. Es gibt hier auch viele All-you-can-eat-Restaurants oder man zahlt einen günstigen Preis pro Kilo Essen vom Buffet. Selbst unser Nationalgericht Feijoada ist total fett. Das ist ein Eintopf aus gepökeltem Schweinefleisch, schwarzen Bohnen und Reis. Die Menschen bewegen sich viel zu wenig, sie sitzen lieber auf der Couch vor dem Fernseher.‘ ‚Hast Du eine schlanke Freundin?‘ frage ich und grinse. Er lächelt verschmitzt. ‚Es gibt jemanden, der mir gefällt.‘ Bei dem Gedanken an sie wird sein verträumtes Grinsen breiter. Dann fährt er ernst fort. ‚Aber die meisten brasilianischen Männer sind sehr aggressiv und eifersüchtig. Das sind richtige Machos. Mit mir reden die Frauen gern, weil ich sie ganz normal behandle und mit ihnen rede. Das kennen die Mädchen hier nicht. Weil ich nicht so unbeherrscht bin halten sie mich daher meistens für schwul.‘


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