Mit zittriger Hand setzt der Kellner das Weinglas vor mir auf den Tisch. Eine dezente Bierfahne weht mir ins Gesicht. Die Hand des Obers greift verzweifelt zur Tischplatte, um nicht vornüber zu fallen. Er schwankt nach rechts und links, vorsichtig setzt er einen Fuss vor den anderen. Seine Finger krallen sich ins Tischtuch. Schon ist es passiert, die betrunkene Bedienung landet mit einem dumpfen Klirren in den Gläsern auf dem Tisch. Im großen Flatscreen an der Theke läuft Fussball. Der Kommentator gröllt sich die Seele aus dem Leib um sein Team anzufeuern. Der Mann hat sich zum Glück nicht weh getan. Mein Wein läuft langsam zwischen den Scherben übers Tischtuch und bildet in kleinen Tropfen ein blässlich weißes Rinnsal, das in einer kleinen hellgrünen Pfütze auf dem Fussboden zusammen läuft. In der schwülen Hitze des Sommers 2002 sitze in einer keinen Kneipe in Prag. Langsam hebe ich die Hand, mir ist nach der Rechnung.
Schlurfenden Schrittes nähert sich der besoffene Tscheche und wirft mit einer respektlosen Handbewegung die Abrechnung auf den Tisch. Überrascht stelle ich fest, dass sich das vom Kellner abgeräumte Glas Weißwein in der Auflistung befindet. Mit einem bösen Blick quittiert man meine Reklamation. Ich stelle mich auf eine Diskussion ein. Überraschenderweise erwartet man aber nicht, dass ich den Wein aus dem am Boden liegenden zersplitterten Weinglas bezahle. Trinkgeld gebe ich nicht. Ich streife durch Prags Altstadt und schließe mich einer Touristenführung an. Von der Astronomischen Uhr an der alten Stadthalle geleitet unsere Reiseführerin uns zur Karlsbrücke. Ich verstehe sie schlecht, wegen ihres ausgeprägten tschechischen Akzents. Gedankenverloren legt sie ihre schwarze Strickjacke auf eine der hölzernen Bänke hinter sich, die den ‚Kleinen Platz‘ der Altstadt wie einen hölzernen Rahmen säumen.
Schon marschieren wir weiter, fast sind wir an Prags berühmter Brücke angelangt. Da vermisst die Dame ihre Strickjacke. ‚Die liegt wahrscheinlich noch auf der Bank in der Altstadt.‘ gebe ich spontan preis. Ein vernichtender, missmutiger Blick trifft mich. Warum ich denn nichts gesagt hätte, herrscht mich die Stadtführerin an. Ihre Augenbrauen ziehen sich in schlechter Stimmung zusammen, in deren Mitte erscheint eine hässliche Falte. Wir müssen allesamt zurück laufen. Die Jacke ist allerdings weg und hat einen zufriedenen neuen Besitzer. Die Bevölkerung in Tschechien ist ziemlich arm. Eine verlorene Weste findet schnell einen neuen Eigentümer. In Deutschland kaum vorstellbar, einfach eine herumliegendes Kleidungsstück mitzunehmen. An der Prager Burg endet der Stadtrundgang und ich bin froh, die verkniffenden Gesichtszüge unseres Guides hinter mir zu lassen.
Langsam schlendere ich durch die verwinkelten Gassen der Altstadt. Aus einem kleinen Club ertönt laute elektronische Musik. Ich ziehe langsam die schwere Metalltür auf, dämmriges Licht umhüllt mich. Der regelmässige monotone Bass vibriert in meiner Brust und verbindet sich mit meinem Herzschlag. Das kontinuierliche Wummern lässt den Boden beben und die Gläser auf den Tischen nach oben hüpfen. An der Bar bestelle ich ein Glas Wein. Der Barkeeper stellt zwei billige Plastikbecher auf den Tresen. ‚Nur einen wollte ich.‘ erstaunt blicke ich die Bedienung an. ‚Du sagtest zwei.‘ mürrisch und ungehalten sieht der Mann hinter der Theke mich an. Ich schüttle langsam den Kopf. ‚Sicher nicht.‘ sage ich mit Nachdruck. Ich kassiere einen weiteren ärgerlichen Blick. Dann nimmt der Tscheche den Plastikbecher. Er wirft diesen mit Schwung hinter sich ins Waschbecken. Der Weißwein spritzt über die Armatur der Spüle. Die hellen Tropfen sprühen durchsichtige nach unten laufende Schlieren auf das Metall. Mit intensiv fixierendem Blick lässt der Kellner scharf klingende Flüche in seiner Muttersprache über mich hinweg fluten. Ich stehe wie angewurzelt und nippe nachdenklich ob diesen Verhaltens am Plastikrand. Der billige Wein fließt brennend durch meine Speiseröhre. Gastfreundschaft ist in ärmeren Ländern nicht unbedingt selbstverständlich. Ein bisschen kann ich die Bevölkerung verstehen, im Vergleich zum Euro steht die Krone eher schlecht. Für wenig Geld kann ich hier in den besten Restaurants dinieren, welche der durchschnittlich verdienende Tscheche noch nie betreten hat. Dennoch. In diesem Land fühle ich mich schrecklich unerwünscht. Ich mache mich auf den Weg zur Jugendherberge, morgen bin ich wieder zu Hause. Jeder geht mit Armut anders um. Wirklich schlecht sind die Menschen deshalb nicht. Irgendwann werde ich wiederkommen.