Meine Nase hängt ein paar Zentimeter über der Kaffeetasse, der feine Duft streichelt wie ein warmer Hauch über mein verschlafenes Gesicht. Tief atme ich das Aroma der Bohnen ein, welches sich als feiner Nebel durch das gesamte Kaffeehaus kräuselt. Gegenüber sitzt ein zierliches, junges Mädchen. Ein verblassendes lila Veilchen ziert ihr rechtes Auge bis hinauf zum Ansatz der Schläfe. Scheu mustere ich ihr Gesicht. Ich will nicht aufdringlich starren. Obwohl ich nichts über die Geschichte der jungen Russin weiß, wenden sich meine Gedanken immer wieder ungewollt dem neuen Gesetzesbeschluss Russlands zu. Seit Februar ist es eine bloße Ordnungswidrigkeit die eigenen Familienmitglieder zu schlagen. Diese Bagatelle wird nur noch mit einem Bußgeld bestraft, ein Gefängnisaufenthalt ist nicht mehr zu befürchten.
Gewalt in der Familie ist in Russland etwas alltägliches. ‚Schlägt er Dich, so liebt er Dich.‘ lautet ein russisches Sprichwort. Strafbar ist häusliche Gewalt nur dann, wenn das Opfer aufgrund der Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert werden muss. Oder wenn es mehrmals pro Jahr zu einem Gewaltexzess kommt. Schlägt man Frau oder Kind also immer nur einmal im Jahr so heftig, dass es öffentlich bekannt wird, kann man sich mit einem geringen Geldbetrag seine Absolution kaufen. Schätzungen gehen davon aus, dass alle 40 Minuten in Russland eine Frau an den Folgen häuslicher Gewalt stirbt. Hochgerechnet auf ein Jahr sind das 14.000 Frauen. Ein langgezogenes Hupen von der Straße schreckt mich aus meinen Gedanken. Rasch blicke ich auf. Der Platz der jungen Frau ist leer. Sie hat das Kaffeehaus bereits verlassen.
Heute möchte ich die Christ-Erlöser-Kathedrale besuchen im Zentrum von Moskau. Ich spaziere auf den Eingang der über 100m aufragenden schneeweißen Kirche zu, die sich wie ein strahlendes Licht gegen den azurblauen, klaren Himmel abzeichnet. Das Gotteshaus gilt als das wichtigste der russisch-orthodoxen Kirche. Kurz vor dem Eingang stoße ich an eine lange Absperrung. ‚Das ist nicht der Zugang für Besucher der Kirche, nur Familien mit Kindern oder freiwillige orthodoxe Helfer dürfen hier vorbei.‘ erklärt mir ein russischer Polizist. Seine Hand winkt mich in die entgegengesetzte Richtung. ‚Wo ist dann der Einlass für alle anderen?‘ Englisch können die Beamten nicht, ich verstehe nur ‚Krimsky most‘. Dazu immer wieder die Handbewegungen, die mich in die Richtung aus der ich komme zurückschicken. Ich drehe mich um und laufe los. Gelegentlich frage ich an den Absperrungen die russische Polizei nach dem Weg. Ich ernte jedesmal eine entschuldigendes Schulterzucken. ‚Wir sprechen kein Englisch.‘ Immer weiter winken mich die Hände der Polizeibeamten von der Kirche weg. Ich befinde mich jetzt schon etwa 2Km von der Kathedrale entfernt, 30 Minuten bin ich gelaufen. Dann erblicke ich den Menschenstrom, der sich langsam vom offiziellen Eingang hinter der Absperrung entlang schiebt. Die gesamte Besuchermenge zieht sich ebenso lange, wie der von mir zurück gelegte Weg.
Schritt für Schritt erobern sich die Kirchgänger ihren Eintritt ins Gotteshaus. Die Wartezeit beträgt definitiv mehrere Stunden. Entsetzt blicke ich auf die Menschenmasse. Meinen letzten Tag in Moskau werde ich nicht in einer Warteschlange am Ufer der Moskva verbringen. Die Gebeine des Heiligen Nikolaus von Myra sind zum ersten Mal seit 930 Jahren von Italien nach Moskau gebracht worden. Bis im Juli werden diese in der Christ-Erlöser-Kathedrale zu sehen sein. Tausende Russen pilgern jeden Tag zu dem goldenen Schrein. Die Menschen denken, dass die sterblichen Überreste des Heiligen auch heute noch Wunder bewirken können. Umfragen zufolge wollen 72% der Russen die Reliquie besuchen. Täglich kommen etwa 20.000 Menschen. Es wundert kaum, dass die Schlange so lang ist. Nikolaus ist der Schutzpatron Russlands. Nebenbei auch noch Patron der Mädchen und Frauen mit Kinderwunsch, Reisenden und Gefangenen, der Seeleute, der Bauern und Müller, Schnapsbrenner und Bierbrauer. Er soll eine glückliche Heirat bescheren und helfen, verschwundene Gegenstände wiederzufinden. Für dies alles und zur Erfüllung seiner persönlichen Wünsche muss man sich nur in eine 2Km lange Menschenschlange stellen. Ebenso mehrere Stunden unter der hellen und wärmenden Sonne warten. Eine win-win-Situation, nicht nur nach russischer Denkweise.
Ich schlendere durch die Altstadt von Moskau auf dem Weg zum Cafe Pushkin. 1999 wurde das Café Pushkin mit barockem Interieur eröffnet. Dies auf so fiktive wie originalgetreue Weise, das man glatt meinen könne, das Café hätte es immer schon gegeben. Selbst die Toilettenräume sind im antiken Stil hergerichtet. Seither trifft sich hier die High-Society aus Moskau ebenso wie die meisten Touristen. Ich finde das Cafe nicht sofort und beschließe Einheimische zu fragen. Obwohl ich höflich bin, ignorieren mich die meisten Russen. Als hätten sie mich nicht gehört laufen diese einfach weiter. Niemand sieht mich an. ‚Weggucken hilft jetzt auch nichts mehr.‘ möchte ich am liebsten ärgerlich rufen. ‚Vielen Dank auch. Wirklich sehr freundlich.‘ höre ich stattdessen meine eigene Stimme. Irgendwann stehe ich tatsächlich vor dem Cafe Pushkin. Allerdings nicht wegen der Hilfsbereitschaft der Russen, sondern weil mein Spaziergang mich einfach hierher geführt hat. Ich genieße ein Glas französischen Wein, die Zeit um mich scheint still zu stehen. Die Einrichtung spiegelt ein Märchen längst vergangener Tage. Beim Hinausgehen öffnet mir der Portier die Tür. Unbarmherzig reißt mich das stürmische, penetrante Hupen auf der Straße aus meinem Tagtraum zurück.
Im Hostel frage ich nach dem Bahnhof, in dem der Nachtzug nach St. Petersburg abfährt. ‚Ich spreche leider kein Englisch.‘ entschuldigend hebt die junge Russin an der Rezeption die Hände. Sie zieht die Augenbrauen nach oben mit bedauerndem Gesichtsausdruck. Selbstverständlich überrascht mich diese Aussage nicht. Flink tippe ich meine Frage in den Google-Translator meines Handys. Sie versteht und betätigt ebenfalls die Übersetzung. ‚Leningrad Bahnhof.‘ ihr Zeigefinger klebt eindringlich am Display ihres Telefons, als könnte ich den Eintrag übersehen. ‚Leningrad-Bahnhof, Spaseba (Danke).‘ lese ich zufrieden. Ein zuversichtliches Lächeln legt sich über ihr Gesicht. ‚Ich kann Dir auch helfen eine Fahrkarte online zu kaufen.‘ Die Internetverbindung im Hostel ist nicht gesichert. Hier die Daten meiner Kreditkarte einzugeben ist mir zu gefährlich. Mit freundlichem Gesicht lehne ich ab.
Die U-Bahn Stationen in Moskau sind wunderschön. Zahlreiche Metro-Bahnhöfe sind prunkvoll mit Marmor ausgestattet und außergewöhnlich verziert. Am Leningrad-Bahnhof wende ich mich an die Volunteers, die den Fußball-Fans zur Verfügung stehen. ‚Könntest Du mir helfen eine Karte für den Nachtzug nach St. Petersburg zu kaufen?‘ frage ich ein junges Mädchen. Sie nickt freundlich und selbstbewusst. Wir laufen zur Information. ‚Ein Gratis-Zug für Fußballfans nach St. Petersburg gibt es heute leider nicht.‘ sie macht ein unglückliches Gesicht. ‚Das ist in Ordnung.‘ sage ich beiläufig. ‚Könntest Du für mich einen Zug reservieren, in einer Frauen-Kabine. Ich nehme 1. Klasse, das sind dann 2 Personen pro Abteil, nicht wahr?‘ Sie nickt pflichtbewusst und ist sogleich im russischen Dialog mit der Dame am Schalter. ‚Ich erkläre Dir die Bahnfahrkarte.‘ meint sie dann, nachdem ich gezahlt habe. Um 23:55h fährt der Zug los. Eine Kabine zu zweit mit Verpflegung.‘ Sie zeigt mir die Nummer meines Waggons und Sitzplatzes, damit ich mich auf jeden Fall zu Recht finde. ‚Hab vielen Dank, Du hast mir sehr geholfen.‘ meine Erleichterung spricht aus meinen Worten. Als Antwort ernte ich ein strahlendes Lächeln. ‚Ich bin Schülerin, aber ich möchte nach meinen Abschluss ‚International Business‘ studieren. Für mich ist es eine tolle Sache hier zu helfen.‘ Ihr Enthusiasmus beeindruckt mich. Für die Freiwilligenarbeit erhält sie kein Geld. ‚Das findet die Regierung bestimmt gut.‘ grinst sie. ‚Leider habe ich in meinen Schulferien jetzt keine Freizeit. Aber Menschen zu helfen, dass ist schon toll. Es macht mir unendlich Spaß. Mein Vater hätte gern, dass ich Politiker werde, aber ich weiß noch nicht‘ Mit dieser Offenheit und dem Interesse an allem Neuem hätte sie sicherlich das Zeug dazu. ‚Ich wurde heute so oft ignoriert, als ich Menschen hier nach dem Weg fragen wollte.‘ sage ich. ‚Woran liegt das?‘ Sie überlegt kurz ‚Die Russen sind es nicht gewohnt Englisch zu sprechen, davor haben sie Angst. Ich finde es toll, dass durch die WM und den Confederation Cup viele verschiedene Nationalitäten problemlos nach Russland kommen können. Wenn dies immer so wäre, dann würden die Einheimischen sicher auch offener werden.‘ Erleichtert atme ich auf. Ein junger Volunteer hat mich davon überzeugt, dass es in jedem Land offene Menschen gibt, die einen interkulturellen Austausch anstreben. In wirklich jedem Land!