Was lächelst Du wie ein Idiot?

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Dass Russland derzeit kein bevorzugtes Reiseziel ist, wird mir beim Umsehen im Flugzeug klar. Der Flieger ist halbleer und ich habe eine gesamte Sitzreihe für mich alleine. Die meisten Russen im Flieger sprechen Deutsch und besuchen vermutlich Verwandte. Im Sommer ist es in Moskau eine Stunde später als in Deutschland. Die Russen haben die Sommerzeit abgeschafft. Der Zug vom Flughafen Domodedovo ins Zentrum der Hauptstadt Russlands versprüht die sowjetische Farbpalette. Ich nehme auf einem der blutroten Polstersitze platz, meinen Hinterkopf lehne ich entspannt an die mausgraue Kopfstütze. Von Bahnhof Paveletzsky ziehe ich meinen Koffer müde zur Metro. Mein Flug war früh am Morgen gestartet. Aus Angst zu verschlafen hatte ich überhaupt nicht die Augen zugemacht. Mit rasantem Tempo und steil abfallend schlängelt sich die U-Bahn in den Untergrund der russischen Hauptstadt. Die Geschwindigkeit mutet mir so schnell an, dass ich kurzerhand springe. Kurz in der Luft hängend landen mein kleiner Koffer und ich dann auf einer der mechanischen Stufen, die uns hinab in das undurchdringliche Dunkel des Metroschachtes reißt.

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‚Fährt der Zug zur Station Kropotkinskaya hier ab?‘ frage ich eine junge Russin. Mit den kyrillischen Buchstaben komme ich in meiner Schlaftrunkenheit überhaupt nicht zurecht. Sie nickt mehrmals bestimmt. ‚Ja, nur zwei Haltestellen, dann müssen Sie aussteigen.‘ Ich glaube ihr. Leider lag sie falsch, wie ich zwei Stationen später bemerke. Die Metro, in der ich gerade stehe, fährt aus der Stadt heraus. Ich muss wieder zurück und finde zum Glück die richtige U-Bahnstation. Über eine Stunde suche ich im Gewirr der kyrillischen Zeichen an den Straßenschildern mein Hotel. Dann frage ich in einem Friseursalon. Auch die Einheimischen finden den Eingang zur Unterkunft nicht. Ich und die junge Angestellte irren durch die Straßen ohne Plan. Insgeheim beruhigt ich das, hatte ich doch schon an meinem Verstand gezweifelt. Ein Telefonat im Friseursalon mit dem Hostelwirt erlöst mich dann. Ich werde vom Besitzer des Hostels abgeholt.

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Wenig später springe ich die Treppen der Herberge hinuter und ziehe die Tür zu. Vor mir liegt ein Zebrastreifen. Nervös sehe ich nach links, dann nach rechts. Die Russen rasen vorbei mit immens überhöhter Geschwindigkeit. Hupserenaden hageln von allen Seiten auf mich ein. Die einzige Art sich im Verkehrsgeschehen auszudrücken ist hier das Hupen. Blinken gilt in Moskau nicht, deshalb tut es auch niemand. Direkt neben mir fährt eine junge Frau ihren Kombi einfach auf die Strasse, gerät auf die Gegenspur und verfehlt um Haaresbreite den PKW, der neben ihr fährt. Wieder wird aggressiv gehupt. Tief und hörbar ziehe ich die Luft ein vor lauter Schreck. Mit angehaltenem Atem renne über den Zebrastreifen. Erstaunlicherweise halten die Autos an, ich werde nicht überfahren. Die Architektur Moskaus ist typisch sowjetisch, breite Strassen und weitläufig angelegte Plätze.

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Die Menschen, die meinen Weg kreuzen haben ausdruckslose oder mürrische Gesichter. Was erwartet man in einem Land, in dem das Sprichwort gilt ‚Was lächelst Du wie ein Idiot?‘ Lächeln tun die Russen nicht. Entweder man lacht richtig oder gar nicht. Ich passiere den zweiten Unfall. Zwei Autos stehen quer auf der Straße, die Motorhauben ineinander gefahren. Den restlichen Straßenverkehr hält dies nicht vom Rasen ab. Im Gegenteil, jede noch so kleine Lücke dient als Ansporn mit quietschenden Reifen am Rest des Verkehrs vorbeizuziehen. Vor dem Eingang des Kreml ist eine kleine Flusslandschaft angelegt. Vier mächtige Pferdeskulpturen zieren den größten Brunnen. Dahinter schlängeln sich seichte Wellen unter kleinen Brücken bis zur Bibliothek Lenins. Der Kreml ist der älteste Teil von Moskau und bildet das Zentrum der Innenstadt.

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In der Erzengel-Michael-Kathedrale besuche ich das Grab von Iwan dem Schrecklichen. Der Zarewitsch (Zarensohn) Iwan Wassiljewitsch war erst drei Jahre alt, als sein Vater 1533 starb. Das Land wurde von der Zarenwitwe Jelena regiert. Sie und ihr Hofstaat beobachteten schon früh bei Iwan einen Hang zu Wutausbrüchen und Sadismus, der sich zunächst gegen Tiere richtete. Als eine Verschwörung des Hochadels, der Bojaren, gegen seine Mutter aufflog, hegte Iwan fortan ein krankhaftes Misstrauen gegen jedermann. 1546 ernannte sich der 16-Jährige zum Herrscher von ganz Russland. Zwischen 1563 und 1575 ordnete Iwan neun Massenexekutionen an. Seinen eigenen Kanzler ließ er bei lebendigem Laib zerstückeln. Nach dem Tod seiner ersten Frau Anastasia, die er wohl wirklich geliebt hatte, heirate er weitere 5 Mal. Die Frauen starben entweder eines mysteriösen Todes oder wurden von ihrem Ehemann verstoßen und ins Kloster gesperrt. Iwan machte es sich zur Gewohnheit, seine Gemahlinnen im Schlaf zu belauschen, um ihre wahre Meinung über ihn zu erfahren. 1581 fand der Zar die schwangere Frau seines eigenen Sohnes in ihren eigenen Gemächern zu leicht bekleidet vor und schlug sie. Sein Sohn tadelte ihn dafür und Iwan versetze diesem einen Schlag mit der Eisenspitze seines Herrscherstabs. Wenig später erlag der Zarewitsch den Verletzungen.

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Ich verlasse den Kreml und stehe auf dem roten Platz. Die Basilius-Kathedrale vor mir sieht aus wie das Werk eines Zuckerbäckers. So bunt und süß zieren die vielen Farben das sanfte Okker des Gesteins. Wie ein Berg aus gedrehten Zuckerstangen münden die farbigen, gezwirbelten Spitzen in kleine Turmdächer . An Lenins Mausoleum vorbei schlendere ich zurück zum Hostel. Es ist bereits Nachmittag und der ständige Regen hat die Luft um mich merklich abkühlen lassen. Fröstelnd ziehe ich meine Strickjacke zu und streiche die nassen Haarspitzen aus dem Gesicht. Ohne Vorwarnung war heute mehrfach der Himmel aufgerissen und hatte das Wasser in einer fast senkrechten Flut auf die Erde entlassen. Eine spontane Flucht wäre zwecklos gewesen. An meinen kurzen Hosen und den nackten Beinen rinnen stetig die kühlen Regentropfen herab und kriechen klamme Feuchtigkeit verbreitend bis in meine Söckchen und Schuhe.

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Im Hostel treffe ich Alexej. Er stammt aus der Umgebung von Moskau. ‚Was machst Du denn hier?‘ frage ich. ‚Ich besuche sie.‘ er deutet auf ein Mädchen neben sich. ‚Sie ist eine Freundin.‘ Sogleich muss er der jungen Russin seine Worte übersetzen. ‚Also meine feste Freundin.‘ sagt er dann. ‚Sie will dass ich das dazu sage, keine Ahnung wieso. Und ich arbeite hier in der Internetbranche‘. Ich nicke amüsiert. ‚Ist gut.‘ Ich erzähle, dass ich eine Karte für ein Fussballspiel in St. Petersburg gekauft habe, um ohne Visum nach Russland einreisen zu können. Im Vorfeld der WM, also während des Confederation Cups und zur Weltmeisterschaft wurde die Visumpflicht für Russland gelockert. Über Fussball kommen wir ins Gespräch. ‚Auto fahren könne die Russen ja nicht.‘ sage ich. ‚Ich habe heute zwei Unfälle miterlebt.‘

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Wenig überrascht sieht mich Alexej an ‚Ja, hier kauft sich jeder seinen Führerschein. 9 von 10 Taxifahren erwerben die Fahrlizenz so.‘ er zuckt mit den Schultern. ‚In Russland kannst Du für Geld alles kaufen. Da gibt es keine Ausnahmen‘ ‚Das erklärt einiges.‘ sage ich nachdenklich. Dann kommt Lucio aus Chile in die Küche. ‚Ich habe heute 20 Fotos mit wildfremden Menschen gemacht wegen meiner Hautfarbe. Weil ich so braungebrannt bin.‘ erzählt er uns ungläubig als könne er es immer noch nicht fassen. ‚Zum Schluß bin ich geflüchtet, es kamen immer wieder Einheimische zu mir mit der Bitte um ein gemeinsames Foto.‘ er deutet auf den dunklen Braunton seiner Unterarme. ‚Schwarze gibt es hier ein paar, aber die sind eben viel dunkler. Menschen mit einem von der Sonne stark gebräunten Teint eher weniger.‘ ‚Es ist nicht gut in Russland schwarz zu sein. Wenn Du ein Schwarzer bist, solltest du dich Nachts nicht allein bewegen.‘ meint Alexej gleichgültig. Entsetzt sehe ich ihn an.

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‚Wir mögen Schwarze nicht.‘ fügt er erklärend hinzu, als er meinen Blick bemerkt. ‚Und Homosexuelle?‘ frage ich. ‚Noch weniger als Schwarze. Das ist doch total unnatürlich.‘ Alexej verzieht die Miene. ‚Stell Dir vor ein schwuler Lehrer unterrichtet in der Schule Dein Kind. Wäre das für Dich ok?‘ ‚Ja sicher, da ist Deutschland viel liberaler.‘ sage ich bestimmt. ‚In Deutschland dürfen Homsexuelle auch heiraten.‘ ‚Nein, in Russland verstecken sich die Schwulen. Solange es nicht öffentlich ist, können sie tun was sie wollen. Aber normal ist das nicht.‘ Russland erkennt keine gleichgeschlechtliche Partnerschaft an und verbietet auch die Adoption von Kindern durch solche Paare. Etwa 34% der Russen halten laut Umfragen Homosexualität für eine behandlungsbedürftige Krankheit. Still mustere ich Alexejs überzeugtes Gesicht. Heute Abend werden wir keine Lösung finden.

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