Veliko Tavorno liegt eingebettet in die steilen Hügel des Balkangebirges. Wie ein Gürtel aus weißem Putz und Fachwerk ziehen sich die Häuser entlang der engen Straßen und schmiegen sich an die Ausläufer der Berge. Inmitten einer Schlucht liegt das Städtchen malerisch am dicht bebauten Hang. Ein vergessener Fleck in völliger Isolation. Stände ich nicht in dieser Pampa ohne funktionierende Kreditkarte würde ich die Einsamkeit und die wunderschöne Szenerie genießen. Ich befinde mich am schönsten Fleck Bulgariens ohne Geld. Mit monotoner Handbewegung habe ich mehrmals versucht vom einzigen Geldautomaten der Stadt Bargeld zu bekommen. Erfolglos. Ich schlendere durch die engen Gässchen bergauf auf dem Weg zu meinem Hostel. Die kleine Pension befindet sich auf dem höchsten Punkt der Stadt. Ich blicke auf die tiefe, fruchtbare Schlucht mit den dunkelgrünen Hängen. Eine wunderbare Aussicht erschließt sich aus meinem Zimmerfenster. Der Unterkunft gegenüber liegend führt ein überschaubarer, schmaler Pfad zu einem alten Kastell.
Ich bin aus Sofia mit dem Zug hierher gereist. Die grenzenlose Ruhe Velikos steht im krassen Gegensatz zur Hektik der Hauptstadt Bulgariens. Ich hatte mich dort einer kostenlosen Führung zu den Hauptsehenswürdigkeiten angeschlossen. Treffpunkt war vor dem Justizpalast. ‚Aus welchen Ländern kommt ihr?‘ will unser Tourguide, ein junger, bulgarischer Student wissen. Aufmerksam verfolgt er die Aufzählung der unterschiedlichen Staaten. Um uns die bulgarische Geschichte zu veranschaulichen, schlägt er uns ein kurzes Rollenspiel vor. Ich übernehme die Figur von Karl dem Großen. Als einzige Deutsche in der bunt gemischten Menschengruppe werde ich nicht gefragt. ‚Du musst Dich wie ein Kaiser benehmen.‘ fordert mich unser Stadtführer lauthals auf. Langsam hebe ich den Arm und winke meinen Untertanen vorsichtig mit der rechten Hand zu. Dazu nicke ich mit strenger Miene leicht mit dem Kopf, so wie ich es aus Filmauftritten der Queen kenne.
‚Kaiser Karl half als Verbündeter dem bulgarischen Khan seine Reichsgrenzen gegen die Osmanen zu verteidigen und auszudehnen. Ein paar hundert Jahre später siegten die Osmanen jedoch und Bulgarien fiel unter deren Herrschaft.‘ erzählt uns der Student. Ich bin ganz in meiner Rolle. Tadelnd strecke ich meinen Zeigefinger in das Gesicht des byzantinischen Zaren vor mir und wedele vorwurfsvoll mit einem imaginären Schwert vor seinem Gesicht. Der junge Russe aus der Reisegruppe, der den Adligen spielen muss, macht einen Schritt zurück und blickt mich skeptisch an. Unser Reiseleiter führt uns weiter durch die Innenstadt bis zur Kathedrale von Alexander Nevsky, einem russischen Fürsten. Alexander Jaroslawitsch, so hieß er ursprünglich, verteidigte Bulgarien gegen die Kreuzritter. Diese versuchten im 13. Jhd ihre Herrschaft über das Baltikum bis nach Russland auszudehnen. Die dänischen und deutschen Krieger wurden von Alexanders Armee vernichtend geschlagen.
Es ist schon Nachmittag als ich in den Bus nach Veliko Tavorno steige. Die schweren Räder des ausrangierten Mercedes schleppen sich über die steinigen und sandigen Strassen bergauf direkt am Gebirge entlang. Im späten Licht der Nachmittagssonne glänzt die dunkelgrüne Umgebung der steilen Hänge in einem rötlichen Schimmer. In Veliko quäle ich mich mit meinem Handgepäckskoffer die steilen Gassen zum höchsten Punkt der Stadt hinauf. Die Rollen meines Koffers lassen sich durch den feuchten Sand kaum in gerader Linie bewegen und bleiben ständig hängen. Vom Balkons des Hostels habe ich einen traumhaften Blick auf die Ausläufer der tiefen Schlucht mit den unregelmässigen Pfaden voller Fachwerkhäuser. Ihr strahlendes Weiß glänzt in der Dämmerung und wirkt wie eine altmodische Umrandung der grünen Natur. Ein antiker Rahmen für das große sowjetische Kriegerdenkmal, das sich in der Mitte der Schlucht erhebt.
Mit einem zufriedenen Seufzer betrachte ich das wundervolle Panorama. Die Umgebung schimmert in den letzten Strahlen der Sonne und versinkt im blassgrauen Abendlicht. Im Aufenthaltsraum setze ich mich auf den unbequemen Hocker vor den einzigen Rechner. Eine Internetverbindung ist kaum vorhanden. Ich sitze mitten in der Pampa. Bis meine Facebookseite geladen ist dauert dem Gefühl nach ewig. Quälend langsam verstreichen die Minuten. Die Zeit schleppt sich in Millimeterschritten durch dieses Tal im Nirgendwo. Als ich schon nicht mehr damit rechne erhalte ich Zugriff auf meine Freundesliste. Ich schreibe meiner Nachbarin. Sie hat einen Zweitschlüssel für meine Wohnung. Nur für den Fall, dass ich mich aussperre.
Ich bitte sie, mir die Nummer meiner EC-Karte rauszusuchen. Diese ist noch ziemlich neu und ich habe mir die Ziffern nicht behalten. Ich wollte eigentlich im Urlaub nur die Kreditkarte nutzen. Zum Glück habe ich meine Bankkarte dennoch dabei. Sandra verspricht mir im Ordner nachzusehen und den PIN zu senden. Sie ist noch unterwegs und nicht zu Hause. Mein Magen knurrt. Wenn er überhaupt noch da ist. Ich fühle mich, als wäre an seiner Stelle nur ein großes Loch. Ohne Geld konnte ich mir nichts zu essen kaufen. Die vielen kleinen Tante-Emma-Läden von Veliko Tavorno haben bereits geschlossen. Ich werde hungrig Schlafen gehen müssen.
Als Antwort ploppt ein Chatfenster im Computer auf. Ich notiere den Geheimcode. ‚DANKE!‘ schreibe ich zurück. Ich richte mich auf und steige von dem unbequemen Stuhl. Hastig ziehe ich die Tür zum Hostel auf. Meine Schritte beschleunigen sich. Das Gefühl im Magen wird immer flauer. Ich setze Fuss vor Fuss. Mir ist schon richtig schlecht. Eine Braterei am Fuße des Berges hat noch geöffnet. Eigentlich ist der Laden mehr eine Metzgerei. Ich wähle frisches Fleisch aus und es wird direkt vor mir auf einer heißen Platte gegrillt. Voller Gier esse ich mit den bloßen Fingern. Die Hitze der Fleischbrocken bemerke ich nicht. Meine Fingerspitzen färben sich rot. Ich glaube nie etwas besseres gegessen zu haben. Ein Moment der Befriedigung und des Wohlfühlens. Glück. Bei jeder noch so gut durchdachten Reiseplanung gehört auch immer eine Portion Glück dazu.