Langsam zieht der Kaffeedampf wie ein leichter, durchsichtiger Nebelhauch zu mir hinauf. Tief atme ich das Aroma der Bohnen ein. Es ist viel zu lange her, dass eine richtige Tasse Kaffee vor mir stand. Die Albaner bevorzugen Kaffeepulver. Ich sitze mitten im Skanderberg-Gebirge im überschaubaren Ort Kruja und betrachte von der Terrasse des kleinen Cafés die Festung auf dem Berghang. Krujas Burgruine ist für die Bevölkerung in Albanien ein Heiligtum. Hier kämpften die Albaner unter Nationalheld Skanderberg gegen die Herrschaft der Türken. Übrig geblieben sind nur ein paar lose Steine. Hierher zu kommen war eine echte Herausforderung. In Tirana gibt es keinen festen Busbahnhof. Die Furgeons, wie die Minibusse hierzulande heißen fahren an verschiedenen Plätzen der Hauptstadt ab. Diese Orte wechseln fast täglich. Ich habe die Nacht in Tirana verbracht und war um den schönen Skanderberg Platz geschlendert. Eine große Bronzestatue des Nationalhelden ziert von weitem sichtbar das Areal. Auch wenn die Landschaft noch so schön ist, hat Albanien ein gravierendes Müllproblem. Dies hat mit der Mentalität zu tun. Die Bevölkerung kümmert es überhaupt nicht, dass das Land total verdreckt. Mülleimer gibt es, allerdings sind diese immer leer.Die Regierung tut nichts, um das Bewusstsein der Menschen zu ändern. Ich mache die schönsten Landschaftsbilder und stehe dabei auf einem Berg aus Plastikflaschen. Ich bereise die Müllkippe Europas. Albanien importiert sogar Müll und Schrott, um ihn zu recyclen. Angeblich zumindest! Es gibt größtenteils keine reguläre Mülldeponie in den Städten. Illegale Müllfelder prägen die Landschaft. Roma Familien suchen dort nach verwertbaren Materialien. Jeder wirft seinen Abfall einfach da ab, wo er entsteht oder entsorgt ihn am Stadtrand. So sparen die Kommunen die Entsorgungsgebühren. Albanien versinkt im Dreck.
Dennoch führte mich die Neugier in dieses Land. Ich empfinde die Albaner als sehr freundlich und hilfsbereit mit einem ehrlichen Interesse gegenüber Fremden. Da während des Kosovo-Krieges viele nach Deutschland ausgewandert sind, besitzt ein großer Teil der Menschen deutsche Sprachkenntnisse. Die Frau, die mir meinen Kaffee serviert, hat während des Krieges im Mannheimer Stadtteil Waldhof gelebt und spricht perfekt Deutsch. Kaum vorstellbar, dass die Blutfehde hier immernoch praktiziert wird. Ganze Familien können sich im Zuge der Blutrache bekriegen und vernichten. Selbst Jugendliche und Kinder geraten zwischen die Fronten. Menschen leben seit Jahren eingesperrt in ihren Häusern, weil sie an der nächsten Straßenecke ermordet werden könnten. Ehre zählt in Albanien mehr als ein Leben. Auge um Auge, Blut um Blut. Ist ein Mann der eigenen Familie getötet worden, soll auch ein Mann der Anderen sterben. Nur Frauen sind von dieser Regel ausgenommen, ihr Blut ist zu unwürdig, um einen Toten damit zu sühnen.
Einem albanischen Taxifahrer konnte ich mit meinem schlechten Spanischkenntnissen den Abfahrtsort nach Kruja entlocken. Kaum saß ich im Kleinbus schloss sich die Schiebetür und konnte nur von außen wieder geöffnet werden. Der Busfahrer tritt das Gaspedal bis zum Anschlag durch und unser Wagen macht einen plötzlichen Satz nach vorn. Mit beängstigend erhöhter Geschwindigkeit segeln wir durch die Straßen. Bremsen gibt es in Albanien nicht. Es gibt auch keine Haltestellen. Wer mitfahren will steht auffällig winkend am Strassenrand. Dann hupt der Bus kurz und biegt ohne Vorwarnung zur Straßenseite. Dort hält er mit einer Vollbremsung an. Ich fliege nach vorn, Sicherheitsgurte sind nicht vorhanden. Das ist meine letzte Fahrt, denke ich bei mir. Meine Hände krallen sich in die Armlehnen, so fest dass die Fingerkuppen ganz weiß werden. Meine Fußsohlen pressen sich mit Druck an den Boden. Ich bin so verkrampft, ich würde immernoch sitzen, selbst wenn man mich jetzt hochheben würde. Immerhin habe ich einen Sitzplatz. Giovani, der mit mir eingestiegen ist, hatte nicht so viel Glück. ‚Ich hoffe, ich muss nicht die ganze Fahrt so verbringen.‘ hatte der junge Italiener bei Fahrtantritt gemurmelt und sich an den Sitzlehnen der Mitreisenden festgehalten. Bei jedem Bremsen geht er ein kleines Bisschen mehr in die Knie. Unser Minibus bietet Platz für etwa 10 Personen. Ein paar viereckige Kunstlederwürfel dienen zusätzlich als Hocker. Um Platz für mich zu schaffen, hatte der Busfahrer ein paar albanische Mädels angewiesen, sich gegenseitig auf den Schoß zu nehmen. Das Auto ist total überfüllt. Eine Frau drängt sich zum Fahrer und wedelt mit ein paar Lekke, so heißt die albanische Währung, vor dessen Gesicht. Sie will aussteigen.
Wieder ertönt das Hupen schnell hintereinander. Wir landen mit quietschenden Reifen am Straßenrand im Stillstand. Ich habe den Sitzplatz gleich neben der Schiebetür. Der Fahrer steigt aus und läuft um den Minitruck. Mit jedem Schritt wird seine Gestalt im Fenster neben mir größer. Er streckt seine Hand nach dem Griff der Tür aus. Im nächsten Moment schiebt sich ein großes Scharnier genau vor meiner Brust ins Innere des Wagens. Ich ziehe tief die Luft ein und halte schnell den Atem an. Wenige Sekunden schmiegt sich das Türgelenk über die gesamte Breite meines Oberkörpers. Die Frau steigt aus. Die Tür fällt zu. Langsam und schwerfällig atme ich aus. Ich bitte das Universum inständig, dass niemand mehr vor Kruja aussteigen muss. Mein Wunsch wird erfüllt. Trotzdem halten wir regelmäßig und unerwartet mit Vollbremsung am Straßenrand. Dann fliegen gut verpackte Pakete aus dem Kofferraum an den Rand der Straße. Schnell werden die Bündel von Wartenden aufgelesen und weggeschleppt. Die Päckchen wirbeln den Staub des Straßensandes auf, der Wind weht einzelne, verlassene Zweige vorbei. Ich fühle mich wie im Western. Nur das mich keine Kugel im Duell der Revolverhelden treffen wird. Ich werde am Ende dieser Busfahrt sterben. Entweder in einem Verkehrsunfall oder durch Herzinfarkt. Meine Wangen fühlen sich extrem straff an, der ständige Geschwindigkeitsrausch des Busfahrers zieht die Backenhaut zu den Ohren und lässt keine Falten aufkommen. Dann sind wir in Kruja. Schnell springe ich aus dem Sitz, bevor sich das Türscharnier wieder vor meine Brust legen kann. An der Tür halte ich mich fest und steige mit unsicheren Schritten und wackeligen Beinen aus dem Minivan. Was ich jetzt brauche ist ein starker Kaffee.