Ich erfahre viel über das Leben in Guatemala seit ich mit der Touristenpolizei und Giovani unterwegs bin. Bevor die Polizei mich abholt telefoniere ich mit meiner Schwester. „Ich dachte Giovani ist Dein Entführer.“ sprudelt es aus ihr heraus „Ich hab auf Deine Facebook Nachricht geantwortet und er hat zurück geschrieben. ‚Lisa hatte keinen Hunger, sie wollte nur ins Bett.’Wir dachten Du bis gekidnappt worden, Mama wollte schon nach Guatemala fliegen. Zum Glück hat Christian Dich gefunden.“ Bei Christian hatte ich noch in der Nacht des Überfalls von der Polizeistation angerufen. Ich hatte ihn nicht erreicht, zu Hause war es bereits zwei Uhr in der Nacht. Am nächsten Tag hatte er nur die Hintergrundgeräusche der Polizeistation und spanische Gesprächsfetzen gehört. Ebenso das Geräusch eines Reißverschlusses, als einer der Beamten die Weste zuzog. Die Lärmkulisse passte natürlich zum Gedanken an eine Entführung, es hätte ja auch jemand über mir den Zipper zuziehen können. Alle sind erleichtert, dass nicht mehr passiert ist. Die Polizei steht in der Tür, ich verabschiede mich hastig. „Ich melde mich später nochmal.“ verspreche ich.
Bei Western Union will ich das Geld in kleinen Beträgen über die gesamte Woche verteilt abheben. „Das geht leider nicht.“ klärt mich die Mitarbeiterin mich auf. Ich muss den ganzen Betrag mitnehmen. Im Bad schiebe ich mir 800 US$ in die Strümpfe, aus Angst um ihr Kind hat meine Mutter ziemlich viel überwiesen. Einen Anteil lasse ich mir in Quetzal geben. Agente Hernandez bietet mir an das Geld auf ein Konto der Polizei einzuzahlen und von dort in kleinen Summen abzuheben. So dankbar ich der Touristenpolizei auch für ihre Hilfe bin, dieses Angebot klingt total unseriös. Ich lehne ab. In der Markthalle von Guatemala City kaufe ich mir einen kleinen gewebten Beutel. Ich trage ihn unter dem T-Shirt und stecke ein paar kleinere Scheine hinein. Der Großteil des Geldes bleibt in den Socken, links Dollar, rechts Quetzal.
Die Beamten fahren mich zu einer verschütteten Mayastätte im Stadtgebiet, Kaminaljuyu. Leider fehlt das Geld um diese vollständig auszugraben, einen freigelegten Teil der Tempel und Akropolis kann man aber sehen. In einem kleinen Museum steht eine Nachbildung der früheren Mayastadt. Es erstaunt mich jedes Mal aufs Neue wie weit entwickelt und modern diese Kultur gewesen ist. Das ganze Gelände ist mit Bäumen bewachsen, wie ein kleiner Park. Für die Nachfahren der Maya ein heiliger Ort, noch heute praktizieren sie hier verschiedene Rituale. An bestimmten Tagen bringen sie Blumensträuße an den Bäumen an. Dabei folgen sie einem traditionellen Kalender. „Alle 13 Tage kann man eine Zigarre aus Tabak und bestimmten Kräutern rauchen. Man streut die Asche in das brennende Feuer hier auf der Steinplatte und formuliert in Gedanken seine Erwartungen für das nächste Jahr.“ ein älterer Nachkomme der Maya mit Zigarre in der Hand gibt bereitwillig Auskunft. „Die Urahnen können bei der Verwirklichung der Wünsche unterstützen. Die Durchführung des Rituals kostet etwa 200 Quetzal (ca. 20 Euro), wenn man es richtig macht.“ Die Zigarre muss er komplett am Stück rauchen, damit die Vorfahren zufrieden sind.
Wir besichtigen den Friedhof von Guatemala City. Die Gräber der Reichen sind an den Mausoleen erkennbar, die alles andere überragen. Je größer das Grab, um so einflussreicher die Familie darin. Die Mittelklasse gibt sich mit einer einfachen Grabstele im Zentrum des Kirchhofs zufrieden, die Armen werden am Rande des Gräberfelds verscharrt.“Hier gibt es auch nachts eine Tour, bei der eine weiße Frau mit rot umrandeten Augen die Teilnehmer über den Friedhof führt. Sie erzählt Geschichten zu den Gräbern bekannter Personen, die in Verbindung mit Ereignissen in Guatemala City stehen. Die Tour ist wirklich gut.“ Kommissar Castillo ist sichtlich begeistert. Der Urlaub war so schon sehr ereignisreich, ohne dass ich mich von einem Gespenst über den Friedhof führen lassen muss, denke ich bei mir. Die Gräber sind allerdings tatsächlich eindrucksvoll, richtige Kunstwerke hat man hier gestaltet. Alles umgibt eine wunderbar, erholsame Ruhe und einen umfassenden Frieden, den man in Guatemala City ansonsten vergebens sucht. Die Stadt liegt auf Platz 25 der gefährlichsten Städte der Welt.
Den Abschluss des heutigen Tages bildet ein Besuch der Ciudad Cayala. Viele Familien kommen am Wochenende in die schöne Anlage mit Restaurants, Geschäften und Cafes, um sich einen schönen Tag zu machen. Zumindest die Wohlhabenden, für den durchschnittlich verdienenden Guatemalteken ist das Angebot zu teuer. Ein Lehrer verdient in Guatemala im Monat umgerechnet 160 Euro. Die meisten Familien kommen aus El Salvador, der Colon ist gegenüber dem US$ besser gestellt, Guatemala ist für sie ein billiges Einkaufsparadies.
Auf der Rückfahrt spreche ich mit Agente Hernandez über seine Familie. Seine Frau Adela studiert 5h mit dem Bus von Guatemala City entfernt Psychologie. Alle zwei Wochen sehen sich die beiden. Der junge Polizist arbeitet 10 oder 11 Tage und hat im Anschluss 5 oder 6 Tage frei. Wenn Adela ihren Abschluss hat, möchte Hernandez auch studieren. Dann unterstützt ihn seine Frau, derzeit finanziert er sie. Er erklärt dies mit einem Selbstverständnis, als wäre es das Normalste der Welt. Er ahnt nichts von den Werten der westlichen Konsumgesellschaft, in der sich jeder als erstes verwirklichen will ohne zu große Kompromisse. Ich bilde selbst keine Ausnahme. Das ich meinen Partner komplett finanziell aushalten würde, kann ich mir schwer vorstellen. Ich war aber auch noch nie in der Situation. „Was sind Deine Wünsche für die Zukunft?“ frage ich Agente Hernandez. „Nach dem Studium möchten Adela und ich eine eigene Familie gründen.“ er überlegt kurz „Mit meiner Familie würde ich dann gern Reisen, so wie Du es tust.“ Ich frage ihn wie das Sozialsystem hier funktioniert und was passiert, wenn man arbeitslos wird. „Wenn Du Deine Arbeit verlierst, hast Du auch kein Geld. Der Staat sorgt nicht für Dich. Eine Rente gibt es hier nicht, jeder arbeitet solange er kann und dann sorgen Deine Kinder für Dich.“ erläutert er mir die Situation. Ich verstehe warum die Familie so einen hohen Stellenwert hat. Sie ist gleichzeitig eine Absicherung, wie ein funktionierender Generationenvertrag.