Liegen Mitleid und Empathie nicht mehr im Trend? Wieso sind wir so gleichgültig gegenüber den schlimmen Nachrichten, die täglich auf uns einprasseln? ‚Wenn jeder an sich selbst denkt, ist an jeden gedacht.‘ Ist es wirklich so einfach, die Verantwortung abzudrücken? Ein gesunder Egoismus gehört sicher zum Leben dazu. Man muss auch mal ‚Nein‘ sagen können, das ist persönlicher Selbstschutz.
Dieses auf sich selbst achten ist hier jedoch nicht gemeint. Täglich werden uns die schlimmsten Szenen und Fotografien vorgeführt. Ohne emotionale Resonanz, wir empfinden einfach nichts. Umso öfter die schrecklichen Reportagen auf uns einstürmen, umso weniger regt sich unser Mitgefühl.
Warum ist dies so? Wahrscheinlich, weil dieses Leid tatsächlich immer präsent ist. Die Nachrichten stecken wir in die Kategorie ‚Kenn ich schon, ist nix Neues.‘ Wir sind daran gewöhnt nicht den Menschen hinter der Berichterstattung zu sehen. Wir dehumanisieren die Betroffenen, um nicht Mitzufühlen. Die Schicksale hinter den Geschichten bleiben unbeachtet.
Wir leben in einer Gesellschaft in der endlose Fluten von Informationen in kurzer Zeit verfügbar sind. Die moderne Technik und die Medien überschwemmen uns mit Tatsachen zu jedem erdenklichen Thema. Dieser Überfluss ist uns zuwider, er überfordert uns. Ständiges Handyklingeln und E-Mail Terror versetzen uns in permanenten Stress. Wer hat da noch Zeit, sich emotional einzubinden? Die Menschen werden immer dümmer und geben ihr Desinteresse an die nächste Generation weiter. Kommunizieren muss man nicht mehr, das geht ja inzwischen per Chat und Smartphone. Wozu also soziale Kontakte suchen, wenn doch niemand mehr vor die Haustür muss, um sich mitzuteilen? Fernsehen ist am bequemsten. Man wird unterhalten ohne eine eigene Meinung beisteuern zu müssen.
Wann wir emotional empfinden und wann nicht, lassen wir uns zum Großteil von den Medien aufdiktieren. Wie wir reagieren kommt ganz auf die Art der Berichterstattung an. Wird im Fernsehen theatralisch erzählt, dass man über einen reglosen Rentner in der Bank hinweg steigt, erntet man einen Aufschrei der Empörung. Emotional unfähig, kalt und gleichgültig möchte dann doch niemand sein. Der Mann stirbt dennoch wegen unterlassener Hilfeleistung auf dem Boden der Bank, er erliegt einem Herzinfarkt. Was ist die Ausrede der Beteiligten? Sie hätten den Rentner für einen Obdachlosen gehalten.
War der Mann zur falschen Zeit am falschen Ort und ist dies eine Ausnahme? Leider nicht, glaube ich. Ich musste Ende letzen Jahres die Sanitäter für einen betrunkenen Mann rufen. An einer Haltestelle wartete ich nach der Arbeit auf die Strassenbahn. Alle Umstehenden hatten zunächst nur gegafft und dann angewidert das Gesicht verzogen und weggeschaut. Der Mann hatte ein Sixpack dabei und war stark schwankend in die Knie gegangen. Seine Bemühung wieder aufzustehen blieb ohne Erfolg, sein Gleichgewicht konnte er nicht halten. Mit einem dumpfen Geräusch schlug sein Hinterkopf auf den Asphalt des Gehsteigs. Er ruderte schlapp mit den Armen ohne Koordination sich abzufangen und schaffte es nicht, sich aufzurichten. Immer wieder sank er zurück in die Hocke. Keiner der Umstehenden reagierte.
Wer entscheidet hier über das Leben? Maßen wir uns diese Entscheidung an? Es ist ganz klar, das Bier ist der Beweis seiner Trunkenheit. Der Mann sah ungepflegt und unhygienisch aus, kein Sympathieträger logischerweise. Und ohne Sixpack? Was wenn der Mann lebenswichtige Tabletten gebraucht hätte und daher so wackelig auf den Beinen war? Niemand hätte die Sanitäter gerufen, die Reaktion wäre die gleiche. Wir weiden uns an dem Leid der Menschen um uns, als wäre alles nur ein Film. Ich glaube das ist das Problem. Gewalt ist ein akzeptierter Teil des Alltags, auf den wir nicht mehr reagieren. Filme und Videospiele werden immer brutaler, Sex wird immer expliziter, auch in Werken ohne Altersbeschränkung. Stimmt nicht? Wer stellt dann bitte die ganzen YouTube Videos nach Verkehrsunfällen ins Netz? Schnell mit dem Smartphone aufgenommen, auch wenn man selbst dabei fast auf das Auto vor einem auffährt.
Trotzdem erfahren wir in den Medien immer wieder von Supermännern oder Heldinnen, die anderen Menschen helfen. Wir finden dieses Engagement toll, sehnen uns selbst danach. Warum lässt uns unsere Umgebung dann so kalt? Ist es ein natürlicher Instinkt anderen beizustehen? Heutzutage wohl eher nicht. Eine Welt der Egozentriker, die das Leid anderer nicht rührt.
Können wir diese Empathie wieder beleben? Ich glaube daran. Auch wenn unser Mitgefühl verschüttet ist, es ist ein automatischer Reflex. Angst, Wut oder Stress können dieses natürliche Handeln überlagern, dennoch ist Mitleid ein Teil von uns. Menschen, die immer nur an sich denken, mag keiner. Kommt man weiter, wenn man nur an den eigenen Vorteil denkt? Ich denke, man bekommt viel mehr zurück, wenn man gibt.
Nicht die Welt ist schrecklich, die Menschen verhalten sich so. Unsere Hemmschwelle sinkt, was berührt uns überhaupt noch? Es muss immer stärkere Reize geben, damit wir noch reagieren. Wenn wir das nicht in den Griff bekommen, werden wir wohl immer mehr abstumpfen.
Dabei kann Mitleid helfen, die Probleme in einer globalisierten Welt in den Griff zu bekommen. Indem man nicht nur an sich denkt, sondern auch an den Anderen. Selbst der kleinste Beitrag zählt. Ein Kauf der Strassengazette zum Beispiel oder ein suspended Coffee. Warum helfen wir dann nicht im Rahmen unsrer Möglichkeiten? Vielleicht trauen wir uns nicht zu etwas ändern zu können. Dann sollten wir schnell wieder lernen an uns selbst zu glauben. Es ist noch nicht mal nötig überhaupt Geld zu investieren, oft hilft schon etwas gespendete Zeit. Ein offenes Ohr zum richtigen Zeitpunkt. Zeit kann jeder geben, sie ist das schönste Geschenk an einen anderen Menschen. Wir müssen uns einfach daran erinnern, dass Geben Freude macht und ein schönes Gefühl ist.
Achtsamkeit und Selbstschutz heißt zu definieren, wann der Zeitpunkt für uns gekommen ist wegzusehen. Wir müssen die Balance finden, uns selbst zu schützen und die Welt trotzdem mit allen Facetten wahrzunehmen. Nicht die Augen verschließen vor Missständen und Unterschieden zwischen Arm und Reich. Dann sind wir Mensch.
Fakt ist: Unser Verhalten ist menschlich. Wer in Zeiten wie diesen durch Terroranschläge und Hungersnöte einen Schock nach dem nächsten erleidet, wird seines Lebens nicht mehr froh. Es ist durchaus gesund, sich abzugrenzen. Wir müssen nur das richtige Maß finden.
‚Man soll Mitleid mit niemand haben, man soll sich vielmehr schämen, daß es so werden konnte!‘ (Clemens Bretano, deutscher Schriftsteller, 1778-1842)
Ich glaube ganz so schlimm ist es nicht 😊 Als ich letzte Woche in Jungbusch unterwegs war, fiel mitten auf der Straße plötzlich ein Radfahrer um, einfach so. Fast alle Autofahrer sind sofort stehen geblieben und als ich dazu kam, war der Krankenwagen auch schon gerufen. Der Mann war komplett betrunken gewesen, aber das hat keine Rolle gespielt. Als ich weiter fuhr, dachte ich mir, dass wir so schlimm eigentlich gar nicht sind…😊
Diese scheinbare Gleichgültigkeit schlimmen Meldungen gegenüber ist, denke ich, dadurch begründet, dass wir in den meisten Fällen nicht viel ausrichten können. Es schleicht sich nach und nach das Gefühl ein, „gegen Windmühle zu arbeiten“. In Gegenden ohne Internet, kleinen Gemeinden, in denen Dinge auf lokaler Ebene passieren, kann auf lokaler Ebene reagiert werden. Menschen helfen Menschen. Das ist auch diese Herzenswärme, der wir an solchen Orten begegnen.
Wenn Meldungen aus aller Welt auf uns einprasseln, kapseln wir uns ab, und ich glaube, das passiert nicht aus Egoismus. Ich glaube es ist Machtlosigkeit. Ich habe früher in der Palliativversorgung gearbeitet; da entwickelt man einen Galgenhumor und eine große Portion Sarkasmus. Sonst würde man verrückt werden.
Auf jeden Fall glaube ich, dass Menschen durchaus zu Mitleid fähig sind… versteckt hinter einer guten Portion Unsicherheit und Selbstschutz.
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Freut mich sehr, dass du positive Erfahrungen gemacht hast, was das Mitgefühl anderen Menschen gegenüber betrifft. 🙂 Es sind auch nicht alle Menschen so und das weiß ich. Ich war allerdings in Mannheim schon in einer Straßenbahn gesessen, die einen jungen Mann überfahren hat. Alle Insassen stürmten plötzlich auf meine Seite und der Ansturm drücke mein Gesicht gegen die Fensterscheibe der Bahn. Sie wollten möglichst genau sehen, wie der Körper unter der Bahn durchgeschleudert wurde, nur die Beine ab dem Knie guckten noch unter den Wagons raus. Obwohl nur die hintersten Türen vom Fahrer geöffnet wurden, liefen alle Passagiere nach vorn zum Verletzen um zu gaffen. Die Rettungskräfte wurden gravierend behindert, der Mann verstarb noch auf dem Weg ins Krankenhaus. Das meine ich damit, sich am Leid anderer zu unterhalten. Sonst hätte man dem Notarzt sicher Platz gemacht. Solchen Menschen möchte ich sagen: Denkt mal nach! ☺
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Das ist schrecklich! Nein, sowas habe ich Gottseidank noch nicht erlebt. Hauptsache man hat was zum posten für Youtube – sowas macht mich wütend. Man sollte die Rettungskräfte mit Schneeschaufeln ausrüsten – für die Schaulustigen 😉
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